Unter den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion tummeln sich eine Reihe von Symptomen unterschiedlichster Dauer. Mindestens 10 % aller Corona-Infizierten sollen von Long Covid betroffen seien. Stimmt das?
Mindestens 10 % aller COVID-19-Infizierten sollen von Long Covid betroffen sein – das geht zumindest aus einem im Nature publizierten Review hervor, dessen Lead-Autor Eric Topol ist, der sich in den letzten drei Jahren als einer der eifrigsten Twitter-Experten zu Corona profiliert hat. Laut Review gibt es weltweit mindestens 65 Millionen Menschen, die unter den Langzeitfolgen ihrer vorangegangenen Infektion leiden. Der 10 %-Anteil kommt durch Bezugnahme auf die Zahl von zum Auswertungszeitpunkt 651 Millionen dokumentierten COVID-19-Fällen weltweit zustande.
Doch wie belastbar sind diese Daten? Das Problem mit den Quoten krankt schon daran, dass die Bezugsgröße ein Problem ist. Die tatsächliche Zahl der mit SARS-CoV-2-infizierten Menschen weltweit geht in die Milliarden. Angenommen es wären drei Milliarden, dann wären die 65 Millionen bekannten Long-Covid-Fälle schon nur noch 2 % – immer noch viel, aber nicht jeder zehnte.
Umgekehrt ist aber auch nicht genau bekannt, wie viele Menschen tatsächlich an Long Covid leiden. Auch hier dürfte es eine Dunkelziffer geben, die allerdings schlechter schätzbar ist als die Dunkelziffer bei den Infizierten. Es gebe keine gute Überwachung der Anzahl an betroffenen Menschen, erklärt Akiko Iwasaki, Immunologin und Professorin für Immunbiologie und Epidemiologie an der Yale School of Medicine in den USA auf dem International Virtual Panel Understanding Long Covid der Leopoldina. Dennoch sei die Schätzung von 65 Millionen wahrscheinlich wahr, wenn nicht sogar eine Unterschätzung: „In einigen Ländern wird Long Covid überhaupt nicht diskutiert und die Menschen sind sich ihrer Situation nicht einmal bewusst“, sagt Iwasaki.
Wie ist das nun im Vergleich zu anderen Infektionen? „Wir sehen heutzutage viel mehr Menschen, die nach Covid ME/CFS entwickeln als nach anderen Infektionen“, sagt Prof. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité. Basierend auf den bisherigen Gesundheitsdaten aus Deutschland entwickelten 0,6 % der COVID-19-Erkrankten im Jahr 2020 ME/CFS, erklärt Scheibenbogen. „Die gute Nachricht ist, dass die Symptome meist in den ersten Monaten verschwinden. Aber wir müssen zugeben, dass etwa 3–5 % der Patienten [länger] krank sind.“ Einige Menschen seien jetzt schon seit 3 Jahren krank. Aber auch hier: Die Bezugsgröße für die Quoten sind die bekannten Fälle, nicht die tatsächlichen Infektionen.
Um die Frage zu beantworten, wie belastbar die Schätzung von 10 % tatsächlich ist, müsste man an allen Fronten tiefer ins Detail gehen: Wie hoch sind die tatsächlichen Infektionszahlen? Wie lange und von welchen Symptomen sind die Menschen von Long Covid betroffen? Und wie war der COVID-19-Krankheitsverlauf? Sowohl Scheibenbogen als auch die Autoren des Reviews nennen in diesem Rahmen Schätzungen, die ein Spektrum von 3–70 % erfassen. „Die Inzidenz wird auf 10–30 % der nicht hospitalisierten Fälle, 50–70 % der hospitalisierten Fälle und 10–12 % der geimpften Fälle geschätzt“, heißt es im Review. Es ist also extremst definitionsabhängig: Halten die Langzeitfolgen mehr als 12 Monate an, sind wir laut aktuellen Schätzungen bei 3 % – der bekannten Fälle, nicht der infizierte Menschen. Reden wir von Symptomen mit kurzer Dauer nach durchgemachter Infektion, dann vergrößert sich auch die Zahl an Betroffenen.
„Es gibt keine globale laufende Überwachung von Long Covid“, merkt Prof. Michael Edelstein von der Bar-Ilan University in Israel an. „Eine der Herausforderungen besteht darin, dass die Falldefinition nicht sehr klar ist. […] Nicht jeder, der nach einer Covid-Erkrankung über Fatigue oder Kopfschmerzen berichtet, wird zwangsläufig Long Covid haben.“
Und genau das ist ein wesentliches Problem, wenn wir über Zahlen sprechen: Allein die Definition von Long Covid unterscheidet sich in der deutschen S1-Leitlinie von der WHO-Definition. Beschwerden, die länger als vier Wochen nach Infektion auftreten oder fortbestehen, werden in der deutschen Leitlinie als Long Covid definiert. Dagegen definiert die WHO Post bzw. Long Covid als das Fortbestehen oder die Entwicklung neuer Symptome 3 Monate nach der SARS-CoV-2-Erstinfektion, wobei diese Symptome ohne andere Erklärung mindestens 2 Monate andauern. In Deutschland wird auch zwischen Long und Post Covid unterschieden, sodass unter letzteren Beschwerden gelistet werden, die länger als 3 Monaten nach Infektion auftreten oder fortbestehen. Diese Begriffe werden aber vor allem in öffentlichen Diskussionen sowie auch in internationalen Studien durcheinandergeworfen.
Auch das Ausmaß, in dem die Symptome die Lebensqualität der Menschen beeinträchtigt, werde nicht genau überwacht, merkt Edelstein an. Zudem seien in vielen Ländern die Tests eingestellt worden. „3 % haben anhaltende Symptome über 12 Monate. Das sind dutzende oder hunderte Millionen Menschen weltweit.“ Er denkt, dass es in den kommenden Monaten und Jahren ein Problem der öffentlichen Gesundheit geben wird.
Die Rolle des Impfstoffs bei der Epidemiologie von Long Covid bleibe dabei abzuwarten, denn es müssten noch viele Studien durchgeführt werden, sagt Edelstein. Es ginge dabei nicht nur darum, ob man geimpft ist oder nicht, fügt Edelstein hinzu. Wir wüssten, dass die Wirkung der Impfung nachlasse und der Zeitpunkt der Impfung im Vergleich zum Zeitpunkt der Infektion eine Rolle spiele, ebenso wie die Dosis. Auch welcher Impfstoff vor und nach der Infektion erhalten wurde, sei ein wichtiger Faktor.
„Klar ist, dass eine Impfung vor einer Infektion ein sehr wichtiger Faktor sein kann, um die Wahrscheinlichkeit von Long-Covid-Symptomen zu verringern“, sagt der Professor für Infektionskrankheiten und Impf-Epidemiologie. Doch welche Rolle spielen dann Reinfektionen bei Long Covid sowie regelmäßige Auffrischimpfungen, um diesen Schutz aufrechtzuerhalten? Und wie wirken sich Corona-Varianten auf die Entwicklung der Langzeitsymptome aus? Es wird klar, dass die Rolle der Impfung sowie von Reinfektionen mit den unterschiedlichen Corona-Varianten bei Long Covid noch weitestgehend unklar bleibt.
Long Covid ist aktuell ein großes Sammelsurium an Symptomen von unterschiedlichster Dauer, die nach einer vorangegangenen Corona-Infektion auftreten können. Das führt auch zu einer ziemlichen Heterogenität an Datenerfassung, da nicht jede Studie alle Symptome erfasst, die beispielsweise von der WHO unter Long Covid gelistet sind. In dem Nature-Review ist die Rede von mittlerweile mehr als 200 identifizierten Symptomen – diese werden in den meisten Studien nicht einmal annähernd in diesem Ausmaß erfasst oder nach der anhaltenden Dauer unterschieden.
Nichtsdestotrotz sind sich die Experten in einem einig: Wahrscheinlich sind weltweit mehr Menschen von Long Covid betroffen als die konservative Schätzung von aktuell 65 Millionen es vermuten lässt. Das tatsächliche Ausmaß wird sich wahrscheinlich erst in den nächsten Jahren genauer zeigen. „Es braucht Zeit, um alle Antworten zu erhalten und wir müssen mit dieser Unsicherheit umgeben – und das ist in Ordnung“, so das Fazit von Edelstein.
Bildquelle: Fritz Benning, unsplash