Haben Diäten-Frust und Fitness-Wahn jetzt ein Ende? Seit dieser Woche dürft ihr euren Patienten die Abspeck-Spritze Wegovy® anbieten. Wie sinnvoll sie ist und welche antiadipösen Wirkstoffe außerdem heiß diskutiert werden, lest ihr hier.
Starkes Übergewicht und Fettleibigkeit führen global zu einer stetigen Zunahme von Morbidität und Mortalität. In nur drei Generationen haben sich Übergewicht und Fettleibigkeit nach dem zweiten Weltkrieg zu einer Pandemie ausgeweitet. In Deutschland sind 25 % der Erwachsenen adipös (18 Mio. Menschen), in den USA sind es sogar mehr als 40 % (132 Mio. Menschen). Die Mehrzahl aller Adipositas-Fälle lässt sich auf eine Über- bzw. Fehlernährung mit hochprozessierter Industrienahrung zurückführen.
Man spricht deshalb auch von primärer Adipositas, um sie von solchen Fällen abzugrenzen, die sich auf dem Boden einer Grunderkrankung (z. B. Hypothyreose, Cushing-Syndrom) oder eines genetischen Defekts entwickeln (z. B. Leptin-Rezeptor-Mutation, Melanocortin-4 Rezeptor-Mutation). Die typischen Folgen der Adipositas sind Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine erhöhte Rate an malignen Tumoren. Nach Vorhersagen der World Obesity Foundation könnte 2030 die Hälfte der Weltbevölkerung als stark übergewichtig gelten. Wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind also dringend geboten. Medikamente können unter bestimmten Voraussetzungen einen Beitrag zur Eindämmung der Adipositas leisten.
Starkes Übergewicht spielt eine Schlüsselrolle in der Pathogenese des Typ-2 Diabetes mellitus. Eine Mehrzahl von Wissenschaftlern hält Typ-2-Diabetes und Adipositas deshalb für zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Wortneuschöpfung Diabesitas in zahlreichen Fachpublikationen trägt diesem Umstand Rechnung. Beiden Krankheiten liegt eine erhöhte Insulinresistenz mit kompensatorischer Hyperinsulinämie zugrunde. Ein permanent erhöhter Insulinspiegel begünstigt seinerseits massive Fetteinlagerungen in und um die inneren Organe des Bauchraums. Man spricht von einer zentralen bzw. viszeralen Adipositas. Sobald auch die Bauchspeicheldrüse davon ergriffen ist, tritt eine Betazelldysfunktion ein. Es kommt zu einem relativen Insulinmangel und zum Vollbild des manifesten Typ-2-Diabets.
Ursächlich für diesen Prozess ist nach Ansicht der Forscher der massive Anstieg stark zuckerhaltiger Fertigprodukte und gesüßter Getränke in unserer Nahrung. Insbesondere der gestiegene Fruktosekonsum spielt in diesem Zusammenhang eine dominierende Rolle. Die Adipositas geht dem Typ-2-Diabetes in der Regel um mehrere Jahre voraus. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass selbst ein manifester Typ-2-Diabetes in den ersten Jahren der Erkrankung durch eine konsequente Gewichtsreduktion zur Remission gebracht werden kann. Insofern sind auch Übergewicht und Adipositas durch eine frühzeitige Ernährungsumstellung reversibel.
Wegen der gemeinsamen Ätiologie von Adipositas und Typ-2-Diabetes ist es nicht verwunderlich, dass die neuen Medikamente zur Gewichtsreduktion als zufällige Nebenprodukte der Diabetesforschung entstanden sind. Sie wurden zur Verbesserung der Glukoseregulierung entwickelt und entpuppten sich gleichzeitig als potente Wirkstoffe zur Gewichtsreduktion, von denen auch Menschen ohne Diabetes profitieren können. Die GLP-1-Rezeptoragonisten (Inkretinmimetika) der ersten Generation zur Behandlung des Typ-2-Diabetes hatten noch eine bescheidene gewichtsreduzierende Wirkung. Dazu zählen z. B. Exenatid (Byetta®, 2005), Liraglutid (Victoza®, 2009), Lixisenatid (Lyxumia®, 2013), Dulaglutid (Trulicity®, 2014) und Semaglutid (Ozempic®, 2017). Zunächst mussten die Wirkstoffe einmal täglich subkutan verabreicht werden. Mittlerweile liegen aber auch Zubereitungen zur wöchentlichen Injektion vor.
Liraglutid war weltweit der erste GLP-1-Agonist, der mit einer etwas höheren Dosierung unter dem Handelsnamen Saxenda® auch eine Zulassung zur Gewichtsregulierung bei erwachsenen Patienten erhalten hat. In klinischen Studien wurde eine mittlere Gewichtsabnahme von etwa 5 % bis 10 % des Körpergewichts nach einem Behandlungszeitraum von einem Jahr beobachtet. Derzeit gilt Semaglutid als das stärkste verfügbare Inkretinmimetikum zur Gewichtsreduktion. Klinische Studien haben Gewichtsabnahmen von bis zu 15 % gezeigt.
Unter dem Handelsnamen Wegovy® wird der injizierbare Wirkstoff Semaglutid in den USA bereits seit Mitte 2021 in der Indikation Adipositas vermarktet. In Deutschland ist Wegovy® seit dem 17.07.23 rezeptierbar. Zur Verbesserung der Adhärenz wurde die orale Form von Semaglutid bereits 2019 zur Therapie des Typ-2-Diabetes unter dem Handelsnamen Rybelsus® zugelassen. In der OASIS-1-Studie fanden die Forscher eine klinisch signifikante Verringerung des Körpergewichts um etwa 15–17 % bei übergewichtigen oder adipösen Patienten im Vergleich zu Placebo.
Da es sich bei Semaglutid um einen Peptid-Wirkstoff handelt, muss er bei oraler Einnahme vor dem Abbau durch Peptidasen geschützt und die Aufnahme über das Darmepithel gefördert werden. Deswegen wird er mit einem Absorptionsverstärker kombiniert. Dennoch beträgt die Bioverfügbarkeit von oral eingenommenem Semaglutid nur etwa 1 %. Um die Wirksamkeit weiter zu optimieren, muss orales Semaglutid im nüchternen Zustand eingenommen werden. Nach der Einnahme darf mindestens 30 Minuten lang nichts gegessen oder getrunken werden.
Seit geraumer Zeit macht ein weiteres Inkretinmimetikum mit guten Gewichtsdaten auf sich aufmerksam. Tirzepatid ist ein dualer Wirkstoff, der die Rezeptoren für gleich zwei im Darm gebildete Inkretin-Hormone aktiviert, nämlich GIP und GLP-1. Tirzepatid wirkt quasi doppelt und wird deshalb auch als Twinkretin bezeichnet. Der duale Rezeptor-Agonist wurde 2022 in den USA unter dem Handelsnamen Mounjaro® für die Behandlung des Typ-2-Diabetes zugelassen.
Die Ergebnisse in der Adipositas-Indikation sind ebenfalls beeindruckend, wie in der SURMOUNT-1-Studie gezeigt werden konnte. An der Studie nahmen 2.539 übergewichtige und adipöse Erwachsene ohne Typ-2-Diabetes teil. Patienten mit einem initialen BMI von ≥ 35 bis < 40 kg/m2, die 15 mg Tirzepatid pro Woche erhielten, wiesen mit 24,5 % den größten Gewichtsverlust auf. Das entspricht in etwa dem, was derzeit auch mit bariatrischen Operationen erreicht wird. Insgesamt hatten 73 % bis 90 % der Patienten, die die 5–15 mg Dosis des Wirkstoffs erhielten, eine Körpergewichtsreduktion von mindestens 10 %.
Mittlerweile liegen auch die ersten Ergebnisse der SURMOUNT-2-Studie vor. Die Gewichtsabnahme nach 72 Wochen betrug 15,6 kg unter der 15 mg-Dosis gegenüber 3,2 kg in der Placebogruppe. Unter der 10 mg-Dosis betrug die Gewichtsreduktion 13,5 kg. Eine Gewichtsabnahme um 5 %. erreichten in den 15 mg und 10 mg Dosierungen 86,4 % bzw. 81,6 % der Patienten. Insgesamt 51,8 % (15 mg) und 41,4 % (10 mg) erreichten sogar eine Gewichtsreduktion um 15 % gegenüber nur 2,6 % in der Placebogruppe. Die Ergebnisse dürften für eine Erweiterung der Zulassung ausreichen. Die FDA verlangt in der Regel eine Gewichtsreduktion von 5 % mehr als in der Placebogruppe.
Beim diesjährigen Kongress der American Diabetes Association (ADA) in San Diego wurde eine Reihe weiterer antiadipöser Wirkstoffe vorgestellt. Der Wirkstoff Retatrutid hat dabei besonders viel Aufmerksamkeit erregt. Retatrutid ist ein Triple-Agonist, der zugleich an GLP-1-, an GIP und an Glukagon-Rezeptoren wirksam ist. In einer Phase-II-Studie wurde Retatrutid, das wie Semaglutid und Tirzepatid ebenfalls einmal pro Woche subkutan injiziert wird, in vier Dosierungen hinsichtlich seiner gewichtreduzierenden Wirkung geprüft (1 mg, 4 mg, 8 mg und 12 mg). Bereits nach 24 Wochen verringerte sich das Körpergewicht der Studienteilnehmer dosisabhängig um 7,3 %, 12,9 %, 17,3 % bzw. 17,5 % im Vergleich zu Placebo.
Noch besser waren die Ergebnisse nach 48 Wochen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Körpergewicht der mit Retatrutid behandelten Patienten um 8,7 % (1-mg-Gruppe), um 17,1 % (4-mg-Gruppe), um 22,8 % (8-mg-Gruppe) und um 24,2% (12-mg-Gruppe) verringert. Die Placebo-Gruppe brachte es lediglich auf eine Gewichtabnahme von 2,1%. In der Retatrutid-Gruppe mit der höchsten Dosis erreichten alle Teilnehmer eine Gewichtsabnahme von mindestens 5 %. Um 10 % oder mehr wurde das Körpergewicht mit der höchsten Dosierung bei 93 % und um 15 % oder mehr bei 83 % der Teilnehmer nach 48 Wochen reduziert. Die Behandlung mit dem Triple-Rezeptoragonist war zudem mit Verbesserungen metabolischer Parameter wie Nüchternglukose, HbA1c und Insulinspiegel assoziiert. Kardiovaskuläre Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet. Eine entsprechende Endpunktstudie zur kardiovaskulären Sicherheit steht allerdings noch aus.
Mono-, Duo- und Triple-Agonisten sind komplexe Peptidmoleküle, die in der Herstellung aufwändig und teuer sind. Die Forschung setzt deshalb große Hoffnungen auf Nicht-Peptid-Rezeptoragonisten, die sich leichter herstellen und in eine Pille verpacken lassen. Ein hoffnungsvoller Vertreter dieser Wirkstoffklasse ist Orforglipron. In einer Phase-II-Studie über 36 Wochen wurde unter dieser Substanz eine Gewichtsreduktion von bis zu 14,7 % erreicht. Das Sicherheitsprofil von Orforglipron war dem der injizierbaren GLP-1-Agonisten vergleichbar. Als Nichtpeptid kann Orforglipron mit oder ohne Nahrung eingenommen werden. Dies könnte sich als Vorteil gegenüber oralem Semaglutid erweisen, dessen Absorption und Bioverfügbarkeit deutlich geringer ist. Derzeit läuft eine Phase-III-Studie (ATTAIN-2), in der die Wirksamkeit und Sicherheit von Orforglipron bei Erwachsenen mit Adipositas oder Übergewicht und Typ-2-Diabetes untersucht wird.
Der Sicherheitsausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur EMA hat am 03.07.23 mit einer Überprüfung aller zugelassener GLP-1-Rezeptoragonisten in den Indikationen Diabetes und Adipositas begonnen. Anlass sind Patientenberichte über mögliche Fälle von Suizidgedanken und Selbstverletzungen. In den Vereinigten Staaten empfehlen die Verschreibungsanweisungen für Semaglutid bereits heute schon, dass Patienten im Hinblick auf Depression oder Suizidgedanken überwacht werden sollen.
Grund ist die Wirkung hochdosierter GLP-1-Rezeptoragonisten auf das zentrale Nervensystem und eine dadurch möglicherweise ausgelöste Abstumpfung der Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens. Der Nucleus accumbens ist Teil des Belohnungssystems und spielt eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung von Belohnung, Motivation und Sucht. Darüber hinaus wurden in Entwicklungsstudien auch Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, vermehrte Gallensteinbildungen und Schilddrüsenkarzinome beobachtet.
Nach vorläufigen Angaben soll der Apothekenabgabepreis der Anfangsdosis Wegovy® von 0,25 mg für die ersten vier Wochen rund 172 Euro betragen. Für die Dauertherapie in der höchsten Erhaltungsdosis von 2,4 mg werden anschließend jeden Monat 302 Euro fällig. Die Behandlung kostet somit monatlich knapp 328 Euro. Das entspricht Tagestherapiekosten von deutlich über 10 Euro. Zum Vergleich: In den USA beträgt der Preis für die Höchstdosis mit ca. 1.202 Euro/Monat fast das Vierfache. Analysten erwarten, dass der Markt für Medikamente zur Gewichtsreduktion innerhalb eines Jahrzehnts bis zu 100 Milliarden US-Dollar erreichen wird.
In Deutschland ist Wegovy® zugelassen für Erwachsene mit Adipositas (BMI ab 30) oder mit starkem Übergewicht (BMI ab 27), bei denen mindestens eine gewichtsbedingte Begleiterkrankung vorliegt (Diabetes-Typ-2, Hypertonie, Dyslipidämie, obstruktive Schlafapnoe oder Herz-Kreislauf-Erkrankung). Standard in der Adipositas-Therapie sind jedoch nach wie vor verhaltenstherapeutische Maßnahmen mit Interventionen zu Ernährung und Bewegung, die auch im Rahmen einer medikamentösen Therapie beibehalten werden sollten.
In den meisten Ländern gelten Mittel gegen Fettleibigkeit (Appetitzügler) als Lifestyle-Präparate und werden deshalb nicht erstattet. Auch in Deutschland schließt das Sozialgesetzbuch eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen explizit aus (§ 34 Abs. 1 Satz 7 SGB V). Daran wird sich vermutlich auch durch die Implementierung des neuen Disease Management Programm (DMP) Adipositas nichts ändern. Eine uneingeschränkte medikamentöse Behandlung aller adipösen Menschen in Deutschland wäre schon aufgrund der hohen Prävalenz, der lebenslangen Behandlungsdauer sowie der immensen Kosten völlig ausgeschlossen. Das würde das deutsche Gesundheitssystem zum Kollabieren bringen.
Studien haben darüber hinaus gezeigt, dass die Gewichtsreduktion unter Inkretinmimetika schnell ein Plateau erreicht und nicht von Dauer ist. Sobald die Behandlung beendet wird, nehmen die Patienten regelhaft wieder zu (Jojo-Effekt). Eine langfristige Umstellung der Ernährungsgewohnheiten wird den Betroffenen also nicht erspart bleiben.
Hierzu könnte die Politik durch geeignete Maßnahmen einen entscheidenden Beitrag leisten. So haben Modellrechnungen ergeben, dass durch die Besteuerung ungesunder Fertigprodukte und Süßgetränke sowie die Steuerbefreiung von frischen, naturbelassenen Lebensmitteln und Mineralwasser eine Reduktion der Adipositas-Prävalenz sowie eine Senkung der Krankheitskosten im deutschen Gesundheitswesen erreicht werden kann („Gesunde Mehrwertsteuer“).
Fiskalpolitische Maßnahmen sind also durchaus geeignet, durch ihre verhältnispräventive Wirkung eine Ernährungsumstellung der Bürger zu unterstützen, wobei ihre Effektivität durch ordnungspolitische Maßnahmen wie z. B. verbindliche Werbebeschränkungen für ungesunde Kindernahrungsmittel und verbesserte Kennzeichnungspflichten für stark verarbeitete Fertigprodukte noch gesteigert werden könnte. Eine hohe Lenkungswirkung haben auch verhaltenspräventive Maßnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung wie z. B. individuell gestaltete Anreizmodelle, Wahltarife, Mitwirkungspflichten, Zuzahlungen und Selbstbehalte. Nicht zuletzt könnte man die Kosten des Appetitzüglers Wegovy® von monatlich knapp 330 Euro auch für gesunde Lebensmittel ausgeben.
Quellen:
Knop F. K. et al.: Oral semaglutide 50 mg taken once per day in adults with overweight or obesity (OASIS 1): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. The Lancet, 2023. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)01185-6
Jastreboff A. M. et al.: Tirzepatide Once Weekly for the Treatment of Obesity. NEJM, 2022. https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2206038
Garvey W. T. et al.: Tirzepatide once weekly for the treatment of obesity in people with type 2 diabetes (SURMOUNT-2): a double-blind, randomised, multicentre, placebo-controlled, phase 3 trial. The Lancet, 2023. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)01200-X
Jastreboff A. M et al.: Triple–Hormone-Receptor Agonist Retatrutide for Obesity — A Phase 2 Trial. NEJM, 2023. https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2301972
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