Wenn sich Wissenschaftler um Adipositas kümmern, dann wird bekanntlich nicht von Popcorntüten gesprochen, sondern von Hormonen und Regelkreisen. Einen neuen Weg gehen jetzt Kölner Forscher: Sie haben Nervenzellen identifiziert, die die Nahrungsaufnahme hemmen. Die Vision: Der Anti-Popcorn-Schrittmacher fürs Gehirn...
Werden wir alle immer dicker? Stoffwechselexperten jedenfalls werden nicht müde, von der Fettsucht als einer Epidemie zu sprechen, die alle anderen medizinische Probleme der nächsten Jahre in den Schatten stellen soll. Zwar gibt es epidemiologische Schwierigkeiten, die das in der Medizin ohnehin hyperinflationäre Katastophisieren im Falle der Adipositas anfechtbar machen. Unstrittig ist aber, dass die Cola-Becher in den achtziger Jahren kleiner, die Popcorntüten schmaler und die Sandwiches kürzer waren als heute. Und dass es zumindest einige Leute gibt, die heute sehr viel dicker sind, als das früher so üblich war...
Hundertfünfzig Kilo? Zeit für den Neurologen...
Wissenschaftler, die über Adipositas reden, reden bekanntlich nicht gerne über Popcorntüten, sondern viel lieber über Hormone und Regelkreise, die aus dem Gleichgewicht geraten. Seit Neuestem reden sie aber auch noch über etwas anderes, nämlich über Nervenzellen. Während Internisten und Chirurgen die Adipositas in den letzten Jahren mit viel Engagement und einigem Erfolg zu einer internistischen (hoher BMI) beziehungsweise chirurgischen (sehr hoher BMI) Erkrankung gemacht haben, springen jetzt die Neurologen auf den Zug auf. Sie wollen die Adipositas in ihren Kanon integrieren. Die Chancen stehen besser denn je: Forscher vom Institut für Genetik der Universität Köln haben jetzt zwei Nervenzellpopulationen identifiziert, die unser Essverhalten und damit auch unser Körpergewicht regulieren. Es handelt sich einerseits um AgRP-Neurone, andererseits um POMC-Zellen. AgRP Steht für Agouti-assoziiertes Peptid, POMC für das etwas bekanntere Proopiomelanocortin, das auch an der Hypothalamus-Hypophysenachse beteiligt ist. Beide Zellpopulationen liegen im Nucleus arcuatus des Hypothalamus.
Zu dick um satt zu werden...
Die Wissenschaftler um Dr. Wolfgang Mathias und Dr. Eva Gropp, die über ihre Arbeiten in der Zeitschrift Nature Neuroscience berichten, haben transgene Mäuse erzeugt, bei denen die jeweilige Zellpopulation zusätzlich einen Rezeptor für das Gift der Vogeldiphtherie trug. Ansonsten handelte es sich um ganz normale Tiere. Mit dem Diphtheriegift war es den Forschern nun möglich, die markierte Zellpopulation selektiv auszuschalten. Das Ergebnis war einigermaßen beeindruckend: Wurden die AgRP-Neurone ausgeschaltet, hörten die Mäuse augenblicklich auf zu fressen. Wenn die Wissenschaftler dagegen die POMC-Zellen vergifteten, gingen die Tiere auf wie Hefeklopse. Wie Erstautorin Dr. Eva Gropp im Gespräch mit dem DocCheck-Newsletter erläuterte, haben beide Zelltypen Rezeptoren für das Fettgewebshormon Leptin. Über diese sind sie in den Adipositas-Regelkreis eingebettet. Das vom Fettgewebe produzierte Leptin hemmt im Normalfall die AgRP-Zellen und stimuliert die POMC-Zellen, was beides die Esslust verringert und das Körpergewicht unten hält. Bei der Adipositas funktioniert das so nicht mehr. "Wir beobachten ein Phänomen, das wir analog zum Diabetes als sekundäre Leptinresistenz bezeichnen", so Gropp. Das Leptin wird dabei so sehr im Überfluss produziert, dass die Rezeptoren an den Nervenzellen auf stur schalten und der hemmende Effekt auf das Hungergefühl ausfällt.
Gibt's Hungergefühl und Sattsein bald auf Knopfdruck?
Interessant wird die Sache, weil AgRP- Zellen und POMC-Zellen keineswegs nur bei Mäusen vorkommen. "Es gibt genau die gleichen Zelltypen auch beim Menschen", so Gropp zu DocCheck. Damit böte sich die Neurologie der Adipositas als Zielstruktur für neue Therapieoptionen an. Bei Mäusen funktioniert das schon: Wird POMC ins Gehirn gespritzt, werden dicke Tiere schlank. Umgekehrt essen die Tiere mehr, wenn AgRP eingesetzt wird. Nun geht das beim Menschen so unmittelbar nicht. Medikamente aber, die in den AgRP-Regelkreis eingreifen, werden bereits in Phase II-Studien getestet. Jetzt wo bekannt ist, wo genau die Zellen liegen, um die es geht, gibt es freilich auch noch eine andere denkbare Option. Analog zum Morbus Parkinson könnte bei Adipösen ein Hirnschrittmacher eingesetzt werden. Der würde genau das machen, was das Leptin nicht mehr kann, nämlich die beiden Zellpopulationen stimulieren und damit die Esslust bremsen. Ideal wäre freilich, wenn sich dieser Apparat bei einem besonders leckeren Essen auch mal abschalten ließe...