Trigeminusneuralgie – für Betroffene bedeutet dies heftigste einseitige Gesichtsschmerzen. Nicht selten geht es mit depressiven Verstimmungen einher. Chiropraktische Interventionen versprechen schnelle Hilfe ohne Nebenwirkungen. Experten kritisieren diese Methode.
Das Öffnen des Mundes beim Essen und Sprechen, ja selbst die zufällige Berührung eines bestimmten Gesichtsbereiches genügt, um Schmerzen auszulösen, die zu den Stärksten zählen, die man sich vorstellen kann. Diese Attacken können bis zu zwei Minuten dauern und bis zu hundert Mal am Tag auftreten. Oft treten die Schmerzen ohne Vorwarnung auf, manchmal kündigen sie sich mit Brennen, Jucken und Spannungsgefühl im Gesicht an. Zwischen diesen Attacken sind die Betroffenen jedoch beschwerdefrei. Diese sog. Remissionsphasen können Monate oder Jahre andauern. Allerdings wird diese schmerzfreie Zeit häufig umso kürzer, je länger die Erkrankung dauert. Diese attackenförmige, „klassische“ Trigeminusneuralgie wird nicht durch Gehirntumore, multiple Sklerose oder einen Schlaganfall ausgelöst, wie manch andere Formen von Gesichtsschmerzen. Vermutet wird, dass die Schmerzen einer „klassischen“ Trigeminusneuralgie entstehen, wenn Blutgefäße mit dem Nerv direkten Kontakt haben und auf diesen Druck ausüben. Dies schädigt die Myelinscheide, die den Nerv umhüllt. Laut Prof. Dr. Steffen Rosahl, einer von zwei im Kollegialsystem arbeitenden Chefärzten der Neurochirurgie des Helios Klinikums Erfurt, ist Druck wahrscheinlich nicht notwendig, um eine „klassische“ Trigeminusneuralgie auszulösen. „Ihr liegt vielmehr ein Konflikt zwischen Blutgefäßen und dem Trigeminusnerv zu Grunde, genau am Hirnstamm, also dort, wo die schützende Myelinscheide den Nerven noch nicht vollständig umhüllt“. Zwischen Nerv und Gefäß bestehe wahrscheinlich eine Verbindung, bei der es zu einem direkten Überspringen einer elektrischen Erregung komme. Typisches Bild: Plötzlich zucken die Betroffenen zusammen, verziehen das Gesicht und fahren mit der Hand zu der schmerzenden Stelle. © Geralt, pixabay
Mittel der Wahl zur Behandlung „klassischer“ Trigeminusschmerzen sind Antikonvulsiva, vor allem Carbamazepin und Oxcarbazepin. „Die Behandlung stellt einen immer dann vor Probleme, wenn im höheren Alter hohe Antiepileptikaspiegel erforderlich werden und bei den Betroffenen Nebenwirkungen wie Benommenheit, Gleichgewichtsstörungen und Hyponatriämien auftreten. Ansonsten ist die Behandlung der Trigeminusneuralgie heute standardisiert und hocheffektiv,“ so Dr. Axel Heinze, Leitender Oberarzt der Schmerzklinik Kiel. Und für den Fall, dass die Medikamente nicht (mehr) wirken oder die Nebenwirkungen zu gravierend sind, können auch Operationen (z. B. mikrovaskuläre Kompression nach Janetta) in Betracht gezogen werden – so die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Steffen Rosahl ist einer von zwei Chefärzten der Neurochirurgie des Helios Klinikums © S. Rosahl
Allerdings wurde die deutsche Leitlinie – auch 40 Jahre nachdem Peter Janetta seinen ursächlichen Beitrag zu dem Krankheitsbild für die Welt veröffentlicht hat – immer noch ohne Beteiligung von Neurochirurgen erstellt. „Das ist schade, weil die offiziellen Empfehlungen für die Patienten Leidpotenzial beinhalten, welches vermeidbar ist,“ gibt Steffen Rosahl zu Bedenken.
Seiner Meinung nach sollte man die klassische Trigeminusneuralgie – wie alle Erkrankungen, bei denen das möglich ist – primär ursächlich behandeln. „Der mikrovaskuläre Konflikt, der zu einer Ephapse, d.h. einer fehlerhaften elektrischen Übertragung zwischen Gefäß und Trigeminus, führt, sollte mikrochirurgisch beseitigt werden. Bei einer „klassischen“ Trigeminusneuralgie liegt die Erfolgsrate bei über 90 Prozent. Die Schmerzen verschwinden bereits am OP-Tag, Medikamente sind dann nicht mehr erforderlich“, so Steffen Rosahl weiter.
Therapieversagen habe häufig eine Fehldiagnose zur Ursache und bei Patienten mit multipler Sklerose sei die Erfolgsrate dramatisch geringer. Kommt eine Operation nicht infrage, könne auch eine (zerstörende) radiochirurgische Behandlung eine Option sein, perkutane Verfahren am und im Ganglion Gasseri seien bei der „klassischen“ Trigeminusneuralgie allerdings nicht mehr indiziert.
Konflikt zwischen der Arteria cerebelli superior und dem Nervus trigeminus. Die Arterie wird mit einem Mikrohäkchen vom Nerv abgeschoben. Dann wird ein Röllchen aus Teflonwatte zwischen Nerv und Arterie geschoben. © S. Rosahl
Doch immer wieder erleben es Ärzte, dass Patienten nach Alternativen suchen. Denn jede Operation birgt das Risiko von Komplikationen und jedes Medikament hat Nebenwirkungen. Häufig kommt dann das Thema auf die Chiropraktik. Auch Artikel zum diesem Thema wecken bei den Betroffenen Hoffnung. Laut einer Veröffentlichung in dem Magazin der gemeinnützigen Organisation „Facial Pain Association“ sollen Patienten in wenigen Sitzungen schmerzfrei werden – und das ohne Komplikationsrisiko und ohne unerwünschte Wirkungen. Die Erklärung: Erschütterungstraumen des Kopfes, Nackens sowie des oberen Rückens können die Position und Ausrichtung der obersten drei Halswirbel – insbesondere des Atlases – verändern. Nahezu alle Informationen, die vom Gehirn in den Körper und wieder zurück geschickt werden, müssen jedoch am Atlas vorbei. Auch der Kern des Trigeminusnerves verläuft durch den gesamten Hirnstamm bis in das obere Rückenmark. Laut dem Autor und Chiropraktiker Larry Arbeitmann können die Schmerzen bei einer Trigeminusneuralgie nicht nur durch Verletzungen des Nerves im Gesicht, sondern auch durch Schäden im zentralen Trigeminalsystem ausgelöst werden. Dieses befindet sich im oberen Rückenmark und dem pontomedullären System im Hirnstamm.
Erschütterungstraumen sollen daher Nervenbahnen verletzen können, wodurch sich am Ende der Nervenfasern im Gesicht eine Trigeminusneuralgie – sofort oder über mehrere Jahre – entwickeln kann. So heißt es zumindest in der Veröffentlichung des „Facial Pain Association“-Magazins. Spezialisierte Chiropraktiker sollen jedoch diese Störungen und Verlagerungen der oberen Halswirbel korrigieren bzw. „justieren“ können. Einige Behandler benutzen dabei nur ihre Hände, andere verschiedene Instrumente, wiederum andere ergänzen die Behandlung mit Elektrostimulation oder Kälte- bzw. Wärmebehandlungen. Während der Behandlung sollte der Patient nur milde Vibrationen oder leichtes Klopfen spüren, hoher Druck oder Kraft sind dagegen nicht erwünscht. „Die Justierung der oberen Halswirbel soll sich ähnlich anfühlen, als wenn eine Krankenschwester den Puls misst“, erklärt Larry Arbeitmann.
Bis heute wurden keine klinischen Studien zu dem Thema Chiropraktik bei Trigeminusneuralgie publiziert. Allerdings wird in dem Artikel eine Pilotstudie aus dem Jahr 2000 vorgestellt, an der acht Patienten mit Trigeminusneuralgie teilgenommen haben sollen. Nach der ersten Wirbelsäulenjustierung verschwanden bei zwei der Teilnehmer die Beschwerden und traten auch in den folgenden acht Wochen (Studiendauer) nicht mehr auf. Bei den restlichen sechs Patienten verbesserten sich die Beschwerden innerhalb der ersten vier Wochen um durchschnittlich 70 Prozent. Quellenangaben zu der Studie sucht man allerdings vergeblich. Larry Arbeitmann schreibt des Weiteren, dass er – gemeinsam mit seinen Kollegen – die Erfahrung gemacht hätte, dass 73 Prozent von insgesamt 68 behandelten Patienten mit Trigeminusneuralgie schmerzfrei waren. Bei 21 Prozent verbesserten sich die Beschwerden und bei nur sechs Prozent blieb die Chiropraktik erfolglos.
Chiropraktische Interventionen haben bei einer Trigeminusneuralgie keinerlei Stellenwert, so Axel Heinze. Der Nervenschmerz entstehe, wenn der Nervus trigeminus entweder durch Druck, traumatisch oder eine Entzündung geschädigt sei. Er könne durch keine Manipulation beeinflusst werden. Problematisch sei auch, dass in dem Artikel nicht zwischen Gesichtsschmerz und Trigeminusneuralgie unterschieden wird. „[…] Der lesende Patient (wird) im Glauben gelassen, jede der beworbenen Maßnahmen wäre zur Behandlung jedes Gesichtsschmerzes geeignet. Manipulationen an der Halswirbelsäule können einen zervikogenen Kopfschmerz beeinflussen, der sich in Gesichtsschmerzen äußern kann. Für eine Trigeminusneuralgie sind sie völlig sinnlos,“ erklärt Axel Heinze. Neurochirurg Steffen Rosahl sieht das ähnlich. Einige Formen der atypischen Trigeminusneuralgie können vielleicht auf chiropraktische Verfahren ansprechen. „Generell muss man allerdings auch sagen, dass diese Patienten oft auch deshalb leiden, weil die Schmerzen bis zur Chiropraxis keiner bessern konnte und ihnen dadurch kein Mensch mehr Aufmerksamkeit und Mitgefühl geschenkt hat. Insofern ist hier auch ein erhebliches mentales Potenzial der Behandlung vorhanden.“