Seit Jahrzehnten häufen sich in Nordindien die Todesfälle bei Kleinkindern. Als Ursache haben Toxikologen jetzt Hypoglycin A aus unreifen Litschis identifiziert. Bei Kindern führen Metaboliten der Aminosäure zu Hypoglykämien.
Dr. Padmini Srikantiah, Toxikologe an den US Centers of Disease Control abd Prevention (CDC), hatte sich fest vorgenommen, ein medizinisches Rätsel zu lösen. Seit 1995 starben im nordindischen Bundesstaat Bihar vor allem Kleinkinder aus ärmlichen Verhältnissen aus unerklärlichen Gründen. Die Rate erreichte im Mai und Juni ihren Höhepunkt, sank dann aber wieder rasch. Bei kleinen Patienten kam es zu Krampfanfällen und Bewusstseinsstörungen. Etwa jeder dritte Betroffene starb. Ärzte sahen postum akute Schwellungen des Gehirns.
Im Rahmen einer Studie rekrutierte Srikantiah 390 Kinder und Jugendliche in einem Klinikum in Muzaffarpur. Von ihnen starben – wie schon bekannt – 31 Prozent an der ominösen Erkrankung. Tests auf Viren, Pestizide oder Schwermetalle blieben negativ. Auffällig war, dass 204 Patienten Blutglucose-Konzentrationen von 70 mg/dL oder weniger aufwiesen. Damit stand sowohl der Verzicht auf ein Abendessen als auch der Konsum von Litschis in Verbindung. Einige Kinder hatten die süßen Früchte statt eines Abendessens konsumiert.
Litschibäume werden in Bihar seit einiger Zeit kultiviert. Die Früchte reifen im Mai und Juni. Sie enthalten Hypoglycin A, eine nichtproteinogene Aminosäure. Das Molekül kommt im Fruchtfleisch unreifer Litschis vor. Tatsächlich fand Srikantiah in 48 von 73 untersuchten Urinproben Hypoglycin A, dessen Abbauprodukt Methylencyclopropylglycin (MCPG) oder beide Stoffe. Und in 72 von 80 Blutplasma-Proben ließen sich auffällige Spiegel von Acylcarnitin als Hinweis auf schwere Störungen des Fettsäure-Stoffwechsels detektieren. MCPG hemmt verschiedene Acyl-CoA-Dehydrogenasen. Das Molekül unterbindet vermutlich auch die Oxidation von Fettsäuren und Leucin. Bei Patienten, die nichts gegessen hatten, kam es zu fatalen Konsequenten. Sie erlitten eine schwere Hypogylkämie und starben. Forscher gingen noch einen Schritt weiter. Sie ließen sich unreife Litschis geben und brachten die Früchte ins Labor. Bei 36 Proben aus Muzaffarpur lag die Hypoglycin A-Konzentration zwischen 12,4 μg/g und 152,0 μg/g. MCPG rangierte zwischen 44,9 μg/g und 220,0 μg/g.
Aufgrund dieser Daten begannen Ärzte umgehend, Eltern vor Ort zu informieren. Sie empfehlen, den Litschi-Konsum zu minimieren und auf ein reguläres Abendessen zu achten. Mittlerweile ist die Zahl an Todesfällen deutlich zurückgegangen. Die Arbeit bringt auch neue Impulse für Pharmakotherapien. MCPG selbst ist als Arzneistoff denkbar wenig geeignet. Bei Derivaten könnte die Sache aber deutlich besser aussehen.