Ein „Immune Reset“ ist für manche Patienten mit einer Autoimmunerkrankung die letzte Hoffnung. Nach einer ablativen Chemotherapie folgt eine autologe Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen. Der Weg ist hart, aber Heilung möglich.
Einmal Hölle und zurück - es ist ein schwerer Weg, um dem inneren Feuer zu entkommen und ein Land zu erreichen, in dem der Körper nicht mehr gegen sich selbst kämpft, sein eigenes Leben verkürzt und nicht mehr wirklich lebenswert macht. Ein solcher Mensch nimmt es in Kauf, über lange Zeit parenteral ernährt zu werden, oft mit geschwollenen Gliedmaßen, Herzrasen oder Atemnot zu kämpfen - nur um einige Jahre später wieder ein normales führen zu können. Ein solcher Mensch muss extrem leidensfähig sein.
Er verzichtet viele Monate lang auf ein Leben außerhalb seines geschützten Hauses. Auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und auf Besuche im Kino oder Theater. Denn überall dort lauern Keime, mit denen sein Immunsystem vielleicht nicht mehr fertig wird. Ein Immunsystem, das ähnlich wie bei Säuglingen noch einmal von Beginn an lernen muss, was gut und böse, eigen und fremd ist. Die Patienten, die sich etwa an der Charité einem solchen „Immune Reset“ unterziehen, leiden an verschiedenen Autoimmunkrankheiten: Zumeist an Multipler Sklerose, systemischer Sklerose oder systemischem Lupus erythematodes (SLE). Oft sind innere Organe wie etwa beim Lupus bereits angegriffen und Immunsuppressiva zeigen kaum noch Wirkung. Bei SLE sind vor allem die Plasma-Gedächtniszellen falsch programmiert und produzieren unentwegt Autoantikörper. Andreas Radbruch vom Deutschen Rheuma Forschungszentrum zeigt den risikoreichen Weg aus dem Dilemma auf: „Wenn man das Immunsystem nicht neu startet, wird es keine Heilung geben.“
Pionier dieser Behandlungsstrategie war im Jahr 1996 Alberto Marmont aus Genua. Er setzte die autologe Transplantation von hämatopoetischen Stammzellen für die Behandlung von SLE-Patienten ein - und war damit erfolgreich. Erfahrungen mit dem körpereignen Ersatz des Immunsystems aus der Konserve gab es aus den onkologischen Abteilungen. Dort dient die myeloablative Behandlung der Ausrottung von Tumorzellen. Nachdem dieser „Reset“-Befehl an das Knochenmark auch bei Autoimmunkrankheiten Erfolg hatte, nahmen die behandelnden Ärzte und Wissenschaftler zuerst an, der Stillstand der Angriffe auf das eigene System wäre auf immunsuppressive Effekte zurückzuführen. Inzwischen scheint jedoch klar zu sein, dass die Heilung mit einem Zurückspulen der Abwehr in einen naiven und selbsttoleranten Zustand verbunden ist. Mehr als 2.000 Patienten mit schweren Autoimmunleiden haben sich inzwischen der Prozedur unterzogen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt jetzt ohne Medikamente und spezielle Therapie gegen ihre frühere Krankheit aus. Auch die Rate der transplantationsbedingten Todesfälle ist inzwischen von rund dreizehn auf sechs Prozent gesunken. Warum funktioniert dieser Immun-Reset aber in vielen Fällen nur unvollständig? Bei SLE stammen die pathogenen Autoantikörper sowohl von zirkulierenden als auch von Gedächtnis-Plasmazellen. Nur erstere sprechen gut auf immunsuppressive Medikamente und eine Therapie mit Belimumab oder Rituximab an, die sich spezifisch gegen B-Zellen richtet. Impfstudien zeigen jedoch, dass eine komplette Auslöschung aller Gedächtniszellen nicht machbar ist. Im Knochenmark und in den sekundären lymphoiden Organen gibt es anscheinend immer noch sichere Verstecke für die immunologische Erinnerung.
Um sein immunologisches Gedächtnis zumindest weitgehend zu verlieren, muss der Patient eine sehr aggressive radikale Chemotherapie über sich ergehen lassen. Bestandteil dieses tödlichen Cocktails ist unter anderem anti-Thymocyten-Globulin (ATG), das auch die Funktion hartnäckiger Gedächtniszellen ausser Kraft setzt. Mit Hilfe von Komplement und dem zelleigenen Selbstmordprogramm (Apoptose) sterben die Plasmazellen ab. Vor der Immunablation steht jedoch die Entnahme der Stammzellen, etwa mit mithilfe des CD34-Oberflächenmarkers. Sie dienen als Grundstock für den Wiederaufbau der Abwehr. Wenn das Immunsystem noch einmal von neuem startet, ähnelt das der Einwicklung der Abwehr im Kleinkind. Zuerst tauchen beim angeborenen Immunsystem NK-Zellen (natürliche Killerzellen) auf. Über die anderen Zellpopulationen dieses Abwehr-Astes gibt es jedoch nur wenig Daten. Beim erworbenen Immunsystem sind es unter den T-Zellen zuerst die Gedächtniszellen, während naive T-Zellen erst nach etwa einem Jahr wieder das Prä-Transplantationslevel erreichen. Erst nach etwa zwei Jahren steht das gesamte T-Zell Rezeptor-Repertoire einschließlich neuer regulatorischer Zellen zur Verfügung.
Bei B-Zellen verhält es sich umgekehrt: Hier tauchen in der Anfangsphase eher naive B-Zellen auf. Bis die Gedächtniszellen wieder auf einem normalem Level sind, dauert es rund drei Jahre. Dabei scheint das Immunsystem den bisherigen Studien zufolge jedoch die Unterscheidung zwischen „Selbst“ und „Fremd“, also die immunologische Toleranz gegenüber körpereignen Strukturen, neu zu erlernen. Autoantigene Aktivität verschwindet in den meisten Fällen oder schwächt sich zumindest stark ab, wenn noch vorhandene Klone wieder zum Leben erweckt werden. In den meisten Fällen taucht zuerst die Erinnerung gegen Antigene aus früheren Infektionen auf, gegen körpereignen Strukturen jedoch kaum. Trotzdem sind die Patienten mit dem juvenilen Immunsystem erst einmal nicht nur gegen Alltagsinfekte anfällig, sondern auch gegen Erreger, die zuvor gegen die erworbene Immunität einer Schutzimpfung keine Chance hatten. Auch dieser Impfschutz muss damit erneuert werden. Bis das Immunsystem wieder intakt ist, kann es zwei bis drei Jahre dauern. Während dieser Zeit ist alles tabu, was mit Infektionsgefahren zusammenhängt: Türklinken, Menschenansammlungen, Busse und U-Bahnen. Die Mortalitätsrate von inzwischen sechs Prozent, so Andreas Radbruch, sei immer noch zu hoch, um das Verfahren für die klinische Routine zu übernehmen.
Neben SLE gibt es aber auch bei anderen Autoimmunkrankheiten ermutigende Entwicklungen: 1999 unternahmen Forscher im kanadischen Ottawa damals einen ersten Versuch, die (Wieder-)entstehung der Autoimmunität bei Multipler Sklerose im Humansystem zu beobachten. „Mit diesem Ziel haben wir total versagt“, beschreibt Mark Freedman diesen von ihm geplanten Ansatz – mit einem Lächeln. Stattdessen ist die Quote erfolgreicher Therapien zur Heilung oder zumindest bezüglich der Besserung der Krankheit in seiner Klinik ziemlich beeindruckend: 23 von 24 transplantierten Patienten haben bisher keinen Rückfall erlitten. Bei den meisten von ihnen ist sie zum Stillstand gekommen, bei einigen bildeten sich die Symptome sogar zurück. Weltweit haben sich rund 900 Patienten inzwischen der anstrengenden Therapie unterzogen. Bei durchschnittlich 70 Prozent ist die Krankheit in den letzten fünf Jahren nicht weiter fortgeschritten. Bei MS liegt die Mortalität in Zusammenhang mit der Transplantation nur bei rund zwei Prozent auf der Basis von bisher 17 Studien. Jennifer Molson aus Ottawa erkrankte mit 26 an Multipler Sklerose: Nicht allzu lange danach saß sie im Rollstuhl und benötigte Hilfe beim Waschen, Ankleiden und Essen. Sie war „krank genug“ für den Versuch einer Stammzelltransplantation im Jahr 2002. Mehr als ein ganzes Jahr konnte sie ihr Haus nicht verlassen. Die Chemotherapie sorgte für kognitive Störungen und eine Glatze, Infektionen für eine Gürtelrose. Die folgenden 14 Jahre brachten dann aber einen erstaunlichen Verlauf. Inzwischen fährt Molson Ski und Kajak und bewegt sich gewandt auf dem Tanzboden. Dennoch ist das Bild, das die bisherigen Studien abgeben, noch immer nicht so klar, wie sich Ärzte und Forscher es wünschen. Die meisten Studien sind nicht kontrolliert und nur Beobachtungsstudien. Vorerst setzen zumindest die Ärzte in Ottawa den „Immune Reset“ nur bei Patienten mit sehr aktiver Krankheit ein, wenn vorhergehende Therapien versagt haben. Der Verlauf der neurologischen Degeneration bei MS beruht allem Anschein nach zumindest zu einem Teil auch auf nicht-entzündlichen Faktoren, auf die das Immunsystem keinen Einfluss hat. Dementsprechend geht der Verlust neurologischer Funktionen auch bei einigen Patienten nach der Transplantation weiter.
In den verschiedenen Zentren experimentieren Ärzte derzeit mit verschiedenen Formen der Immunablation, die vielleicht nicht ganz so viele – manchmal tödliche – Nebenwirkungen mit sich bringt. Je milder jedoch die Chemotherapie, desto mehr wächst das Risiko, dass autoreaktive Klone der Behandlung entkommen. Aber selbst mit harter Chemotherapie werden wohl immer ein paar wenige autoreaktive Klone übrig bleiben. Andreas Radbruch und seine Kollegen arbeiten daher daran, selektiv Gedächtniszellen ausschalten zu können. Dazu könnten am Deutschen Rheumaforschungszentrum entsprechende Antikörper oder aber auch Regulatoren für die Genaktivität dienen. Statt hämatopoetischen Stammzellen könnten in Zukunft vielleicht auch einmal mesenchymale Stammzellen zum Neuaufbau der Abwehr dienen. Mark Freedman in Ottawa und Jeffrey Cohen in Cleveland planen dazu die ersten klinischen Studien. Deren Hoffnung beruht darauf, dass hämatopoetische Stammzellen zwar in der Lage sind, das Immunsystem neu aufzubauen, dass aber andere Stammzell-Populationen entsprechende Faktoren für eine neurologische Regeneration etwa bei MS liefern könnten. Entsprechende präklinische Daten schüren diese Hoffnung. Es ist eine extrem harte Prozedur, die Patienten mit SLE, Sklerodermie oder MS durchstehen müssen, um ein Leben ohne die ständigen Angriffe der Abwehr gegen den eigenen Körper führen zu können. Die Risiken sind hoch und niemand weiß, ob die autoreaktiven Klone nicht auch erst nach zehn Jahren oder später wieder auftauchen und für den Rückfall sorgen. Aber die Berichte (vorerst) „geheilter“ Patienten machen Mut, diesen gefährlichen Pfad weiter auszubauen.