Zigarettenkonsum, Übergewicht, kaum Bewegung: Klassische Risikofaktoren ziehen früher oder später Krankheiten nach sich. Experten wollen jetzt Versicherte mit selbst verschuldeten Leiden stärker zur Kasse bitten. Ist das sinnvoll? Gute Studien zu dem Thema sind bisher rar.
Deutschland ist im Wahlkampf. Sozialdemokraten setzen einmal mehr das Thema Bürgerversicherung auf ihre Agenda. Sie wollen die Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung zu Gunsten der GKV aufheben. Björn Hansen, Vorstand der BKK Wirtschaft & Finanzen, und Frank Dietrich, Experte aus dem Versicherungsbereich, sehen das Problem an einer ganz anderen Stelle: „Menschen mit ungesunden Gewohnheiten muss man stärker an den Krankheitskosten beteiligen“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Hansen und Dietrich bewerten weder gesetzliche noch private Krankenversicherungen per se als besseres Modell. „Das von vielen präferierte Solidarsystem der GKV beinhaltet beispielsweise auch eine Vollversorgungsmentalität mit fehlenden Anreizen zu gesundheitsbewusstem Verhalten“, kritisieren sie. „Auch fehlt es oft an einem dringend notwendigen Kostenbewusstsein.“ Dem gegenüber steht, dass der Gesetzgeber jederzeit Leistungen einführen, ändern oder streichen kann. Bei der PKV existieren einklagbare Ansprüche aus Verträgen. Die Experten sind sich darin einig, es mache keinen Sinn, eines der Systeme zu zerschlagen. Vielmehr kritisieren sie, etlichen Versicherten fehle das Bewusstsein im Bereich der gesunden Lebensführung. „Denkbar ist für sie, dass die gesetzliche Krankenversicherung gesundheitsbewusstes Verhalten nicht nur fördert, sondern auch belohnt, indem Menschen mit ungesunden Lebensgewohnheiten stärker an den Krankheitskosten zu beteiligen sind“, lautet ihre zentrale Forderung. Versicherte stehen diesen Gedanken erstaunlich offen gegenüber, fand die Strategieberatung Prophet heraus.
Marktforscher der Unternehmensberatung befragten mehr als 1.000 Bundesbürger repräsentativ nach ihrer Einstellung. „Gesundheitstarife sind richtig. Ich will mit meine Beiträgen nicht die ungesunde Lebensweise von Rauchern oder Fettleibigen unterstützen. Wer sich nicht um seine Gesundheit kümmert, sollte auch mehr zahlen“ – dieser Aussage stimmten 62 Prozent zu. Sogar 76 Prozent wünschen sich Boni, falls sie gesund leben. Als Nachweis sollte eine Bescheinigung des Arztes ausreichen. Nur 37 Prozent wären allerdings bereit, ihrer Krankenkasse Daten von Fitness-Apps oder ähnlichen Tools zur Verfügung zu stellen. Im gleichen Atemzug sprachen sich 72 Prozent aller Interviewten gegen jedwede Diskriminierung von Mitmenschen in der Gesundheitsversorgung aus. Die Meinungsbildung ist wohl noch im Fluss. Felix Stöckle © Xing „Weil die Menschen mit einem bewussten Lebensstil weniger Gesundheitskosten verursachen, erhoffen sie sich von der Krankenkasse eine finanzielle Belohnung“, kommentiert Felix Stöckle von Prophet die Ergebnisse. „Etliche Versicherte sehen offenbar nicht ein, dass sie mit ihren Beiträgen das ungesunde Verhalten von anderen unterstützen und fordern vielmehr die Honorierung ihrer eigenen Bemühungen.“ Jetzt müsse die Gesellschaft entscheiden, ob ungesund Lebende per Malus abgestraft werden sollten. Stöckle weiter: „Eine Malus-Regelung macht nur dann Sinn, wenn man sich insgesamt eine Verbesserung für das Gesundheitssystem verspricht und sich diese nur auf Verhaltensweisen beschränkt, die durch den Einzelnen auch tatsächlich beeinflussbar sind.“ Halteprämie für Versicherte Soweit die Theorie. Wie so oft sieht die Praxis ganz anders aus. Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen hat mehrere Incentive-Modelle aus Deutschland unter ihre Lupe genommen und dabei etliche Schwachstellen gefunden, Zwanzig von dreißig hier untersuchten Krankenkassen hatten mindestens eine Maßnahme im Bonusprogramm, die kein gesundheitsförderliches Verhalten verlangt, wie die Teilnahme an einer Früherkennungsuntersuchung oder an einem Gesundheitskurs, sondern lediglich Vitalparameter erfasst. Anzahl der Krankenkassen, die keinen, einen, zwei, drei, vier oder fünf gesunde Messwerte im Rahmen ihrer Bonusprogramme anrechnen © Verbraucherzentrale NRW „Der Nachweis, dass einzelne Werte im Normbereich liegen, belohnt nicht das gesundheitsförderliche Verhalten der Versicherten, sondern die Gesundheit der Versicherten“, kritisieren Verbraucherschützer. „Das entspricht nicht dem Sinn der Bonusprogramme und der Richtung des Präventionsgesetzes, sondern stellt vielmehr eine Halteprämie für gesunde Versicherte dar.“ Sie fordern, Änderungen des Lebensstils zu vergüten.
Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es tatsächlich Hinweise, dass finanzielle Anreize zu gesünderen Verhaltensweisen führen. „Finanzielle Anreize, selbst mit kleinen Beträgen, können gesundheitsbezogene Verhaltensweisen ändern“, schreibt Kim Sutherland von der University of Cambridge als Ergebnis ihrer Literaturanalyse. Allerdings sei man weit davon entfernt, entsprechende Programme flächendeckend auszurollen. Gerade staatliche Maßnahmen richten sich an einkommensschwache Bürger - die Übertragbarkeit auf andere Personengruppen bleibt unklar. Aktuelle Arbeiten befassen sich mit Typ-2-Diabetes und mit Übergewicht, haben jedoch ihre Schwächen. Sie schließen nur wenige Patienten ein und begleiten diese vergleichsweise kurz. Zahlreiche Unsicherheitsfaktoren wie das Krankheitsbild selbst, der Bildungshintergrund oder das Haushaltseinkommen machen es schwer, daraus Empfehlungen abzuleiten. Mitesh S. Patel aus Pennsylvania ist sogar der Meinung, nicht die Belohnung selbst, sondern die Angst, Vorteile zu verlieren, sei für wünschenswerte Effekte verantwortlich. Diese Einschätzung teilen nicht alle Experten. Bevor Gesundheitspolitiker Entscheidungen treffen, sollten sie bessere Daten einfordern.