Die kritischen Stimmen und Klagen über den Gesundheitszustand der Jungmediziner werden immer lauter. Ein ernstzunehmendes Phänomen oder bloß „Jammern auf hohem Niveau“? US-Forscher sehen Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen und nennen konkrete Lösungsansätze.
Die Debatte um die mentale Gesundheit von Medizinstudenten und Ärzten ist nicht neu. Stecker et al. beschrieben schon in den 1930er Jahren „neurotische Entwicklungen“ bei Medizinstudenten in höheren Semestern. Dennoch hat die Problematik in den vergangenen Jahrzehnten im Universitäts- und Arbeitsleben eher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Seit einiger Zeit aber wird in den USA das Thema „Mental Health“ von Medizinern wieder kontrovers diskutiert und rückt vermehrt auch in den Fokus wissenschaftlicher Publikationen. So werteten Dyrbye et al. insgesamt 40 Studien aus, die in den USA und Kanada publiziert wurden und sich mit dem Thema „Depression und Angst bei Medizinstudenten“ auseinandergesetzt haben. Dabei konnten sie nachweisen, dass die Jungmediziner ein signifikant höheres Level an psychischer Belastung im Vergleich zu ihren Altersgenossen und der Gesamtbevölkerung aufweisen, mit hoher Prävalenz für Depressionen und Ängste. Um eine präzise Aussage über die Ursachen der psychischen Leiden zu treffen, war die Datenlage jedoch nicht ausreichend.
Dass es bislang so wenige Lösungsansätze zur Verbesserung der Arbeits- und Studienkonditionen gibt, war für die Forscher der University of Michigan Grund genug, um konstruktiv an das Problem heranzugehen: In ihrem Artikel „Healing Medicine's Future“ untersuchten sie, inwiefern das an Perfektion orientierte Selbstbild der Mediziner und das Ideal von „Göttern in Weiß“ zur Entstehung von Burnout und Depressionen beiträgt. Außerdem widmeten sie sich der Frage, wie es gelingen kann, die medizinische Ausbildung der jungen Generation so zu gestalten, dass deren Gesundheit nicht länger vernachlässigt wird. Sie plädieren für ein Umdenken: Das psychische Wohlbefinden des medizinischen Nachwuchses solle stärker in den Mittelpunkt rücken, ein offener Umgang mit Schwächen und die Bereitschaft, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, müsse gefördert werden. Sie gingen sogar noch einen Schritt weiter und warfen die Frage auf: Wenn die Ausbildungskonditionen negative Folgen für die mentale Gesundheit der Jungmediziner haben und wenn man bedenkt, dass es eine Heilkunst ist, die sie praktizieren, ist es dann ethisch vertretbar, den Status quo und das eigene Leid zu ignorieren? Handlungs- und Interventionsbedarf sehen sie auf diversen Ebenen: Beginnend bei Innovationen im Gesundheitssystem über Reformen in Lehre und Arbeitswelt mit konkreten Ausbildungsprogrammen zur Förderung eines Klimas der Offenheit und Selbstfürsorge an den Universitäten und Kliniken bis hin zur Korrektur der eigenen Einstellung zu Gesundheit und Fehlbarkeit eines jeden Medizinstudenten bzw. Mediziners.
Einer der größten Vorzüge des Arztberufes: er ist in hohem Maße sinnstiftend. So urteilten rund 80 Prozent der Teilnehmer einer Befragung des Marburger Bundes. Wieso kommt es im scheinbaren Widerspruch dazu dennoch zu immer lauter werdenden kritischen Stimmen und Klagen über den Gesundheitszustand der Helfer? Eine Untersuchung von Brazeau et al. an sechs medizinischen Fakultäten in den USA zeigte, dass Mediziner im Vergleich zu gleichaltrigen Studenten anderer Studiengänge „gesünder“ ins Studium starten (höhere Punktwerte bezüglich Lebensqualität, niedrigere in Bezug auf Depressionen etc.). Dies würde tatsächlich die Vermutung nahelegen, dass die Ausbildung selbst zur Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Absolventen beitrage, so die Schlussfolgerung der Autoren. Als Ursachen werden seitens der Studenten unter anderem hoher Druck, finanzielle Schwierigkeiten und inadäquate Umgangsformen sowie die zunehmende Entwicklung eines „professionellen Zynismus“ genannt, so Dyrbye et al. Eine großangelegte Multi-Center-Studie aus den USA deutet laut West et al. darauf hin, dass sich dieser Trend im Berufsleben fortsetzt: 51,5 Prozent der rund 16.000 befragten Assistenzärzte der Inneren Medizin gaben dort an, an Burnout-Symptomen zu leiden. Im ersten Jahr der Assistenzzeit ist nach einer Metaanalyse von Mata et al. ein besonders starker Anstieg depressiver Symptomatik um rund 15,8 Prozent zu verzeichnen. Die jungen Ärzte beklagen laut verschiedener Untersuchungen Überstunden, Nachtdienste und Unzufriedenheit mit dem Job sowie mangelnde Autonomie.
Die Problematik ist nicht allein auf den nordamerikanischen Raum begrenzt, wie eine Meta-Analyse von Rotenstein et al. nahelegt: basierend auf Daten aus 195 Studien aus über 40 Ländern lag dabei die geschätzte Prävalenz depressiver Symptome unter Medizinstudenten bei 27, 2 Prozent, nur 15,7 Prozent der Betroffenen nahmen psychiatrische Hilfe in Anspruch. 24 Querschnittsstudien aus 15 Ländern ergaben, dass 11,1 Prozent der studierenden Mediziner Suizidgedanken haben. Die Untersuchung zeigte aber einige Limitationen, sodass weitere evidenzbasierte Analysen zum Thema zukünftig nötig sein werden. DocCheck startete Ende des vergangenen Jahres eine Umfrage unter rund 500 deutschen Medizinstudenten und wollte wissen, ob das Studium ihre Psyche belaste: 54 Prozent antworteten mit ja. Auf dieser Grundlage ist es zwar nicht möglich, eine repräsentative Aussage über die Situation in Deutschland zu treffen. Interessant waren die hitzige Diskussion und die Reaktionen auf die Umfrage und die Kommentare der Studenten aber allemal. Neben Zustimmung kommt dort auch viel Kritik an der „Jammer-Einstellung“ zum Ausdruck: „Ich muss ehrlich sagen, wenn den Studenten das Studium schon zu ‚hart‘ ist, dann haben sie nicht den richtigen Charakter für den Job, den sie hinterher machen sollten. Denn da wird noch einiges mehr abverlangt. Ob das hingegen so in Ordnung ist, sei dahin gestellt.“ Aus einer solchen Stellungnahme sprechen Realitätssinn und Erfahrung, aber auch Zweifel am Status quo klingen an.
Zurück zu den Autoren des „Healing Medicine's Future“-Artikels: Sie haben ihre ganz eigene Theorie, wie das Selbstbild vom unfehlbaren Arzt in den Köpfen des Medizinernachwuchses entstehen könnte. Was es bedeute, ein „guter“ Arzt zu sein, sei nämlich nicht klar definiert. Ebenso wenig existiere „der eine Weg“ zur Formung und Vermittlung einer „professionellen ärztlichen Identität“. Dennoch entwickle jeder Student im Laufe der Ausbildung eine Idee vom Verhalten und Sein des idealen Mediziners. In ihrer Klinik seien sie besonders häufig mit folgenden, tief verwurzelten Glaubenssätzen unter den Assistenten konfrontiert, denen die Forscher eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung psychischer Erkrankungen zuschreiben. Eine der vorherrschenden Annahmen ist scheinbar, dass die eigenen Sorgen und Nöte während der Ausbildung still geduldet werden sollten. Auch bei physischer oder emotionaler Überlastung dürfe nicht nachgegeben werden, man solle „durchpowern“, sonst stehe zu befürchten, von den Kollegen oder Vorgesetzten als schwach und wehleidig wahrgenommen zu werden. Denn der Arzt gelte nach wie vor als natürlich resilient, diese „Widerstandskraft“ und Stärke sei dann häufig auch essentieller Bestandteil des Selbstbildes und eine Quelle des Stolzes für die Mediziner. Vor dem Hintergrund einer stressigen Alltagsrealität gerieten sie aber in zunehmenden Konflikt mit genau dieser Einstellung, die sie aus den Augen verlieren ließe, dass auch Ärzte vulnerabel und „menschlich“ seien, genau wie die zu behandelnden Patienten.
Psychiater Dr. Bernhard Mäulen hat sich als Leiter des Instituts für Ärztegesundheit in Villingen Schwenningen eingehend mit dem Thema befasst und schildert einen ähnlichen Trend: „Die meisten Mediziner überspielen ihre Probleme. Klappe halten und durch – das hat Tradition in der Medizin“, sagt er. Wird diese Haltung in der Ausbildung vermittelt? Dazu sagt eine Assistenzärztin aus Leipzig: „Nicht direkt, aber es werden stets hohe Erwartungen gestellt und eigene Arbeitsunfähigkeit, Krankheit sowie persönliche Schwierigkeiten haben wenig Raum. Ich denke, das ist generell ein Problem von sozialen Berufen: anderen soll geholfen werden, da kann man selbst keine eigenen Probleme haben.“ Hans-Jörg Freese vom Marburger Bund bezeichnet dieses Phänomen als „Ethikfalle“: „Die Ärzte werden ausgenutzt, weil man weiß, sie lassen die Patienten nicht im Stich.“
Die Forscher der Universität Michigan vermuten, dass vor allem die Sorge der Studenten, sich zu „outen“ und dann stigmatisiert zu werden, sehr groß sei. Sie selbst betreiben eine Abteilung für psychische Gesundheit für Studenten und Assistenzärzte und bieten diesen Erstevaluationen, die sie nicht dokumentieren, sowie Folgetermine in der Klinik an. Da sich die Hemmungen, klassisch psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht vollends abbauen lassen werden, plädieren sie auch für kreative Alternativen zur klinischen Behandlung: Dabei könnte die vermehrte Nutzung digitaler Angebote in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen. Mit sogenannten „Telemental Health“-Programmen wird es möglich, Hilfe privat und vom heimischen Computer aus in Anspruch zu nehmen. Eine solche online-basierte kognitive Verhaltenstherapie sei den Autoren zufolge in der Prävention suizidaler Absichten bei Assistenten der Inneren Medizin erfolgreich angewendet worden. Kognitive, behaviorale und achtsamkeitsbasierte Interventionen zeigten sich generell als vielversprechend bei der Reduzierung von Ängsten, Depressionen und Burnout bei Medizinern.
Was in Deutschland womöglich noch die Assoziation mit einem „Spa-Urlaub“ weckt, wird in den USA als eine dringend notwendige Reaktion auf die erhöhten Burnout-Raten unter den Jungmedizinern betrachtet. Dort sind in den letzten Jahren mehrere „Wellness-Programme“ etabliert worden, deren Wirksamkeit in der kommenden Zeit systematisch evaluiert werden muss. Die American Medical Association (AMA), die größte Standesvertretung für Ärzte und Medizinstudenten in den USA, die aktuell eine Vorreiterrolle im Bemühen um die Gesundheit der Helfer einnimmt, hat einen sorgfältig ausgearbeiteten Leitfaden zur erfolgreichen Gestaltung solcher Programme veröffentlicht. Dieser soll die konkrete Umsetzung ihrer Vision eines Klimas der Selbstfürsorge und gegenseitigen Unterstützung im Klinikalltag ermöglichen. In ihren Augen führt eine stärkere Fokussierung aller Mediziner auf das Thema Wellness zu einem „gesünderen“ institutionellen Klima, einem höheren Engagement von Seiten der Assistenten, vermehrter kollegialer Unterstützung und einer verbesserten Patientenversorgung. Eines der bereits in der Erprobung befindlichen Modelle ist das Vanderbilt-Medical-School-Wellness-Programm. Der Schwerpunkt liegt bei diesem innovativen Ansatz vor allem auf der frühzeitigen Prävention psychischer Erkrankungen. Das Programm besteht aus drei Komponenten, von denen man sich ein erhöhtes Wohlbefinden der Teilnehmer verspricht: Zum einen wurden Mentorenprogramme eingeführt, die zu einer Vertiefung der Beziehungen zwischen den Studenten unterschiedlicher Semester sowie zwischen Studierenden und der Fakultät beitragen sollen. Diese beinhalten Beratungsangebote zu u. a. akademischen- und Karrierefragen, Hinweise zu Gesundheit und Selbstfürsorge oder einfach die Möglichkeit zu offenen Gesprächen und Austausch. Den zweiten Teil des Programmes bildet eine studentische „Wellness- Initiative“ mit dem Ziel der Steigerung des Eigenengagements und der Partizipation anderer Kommilitonen – einschließlich diverser Aktivitäten wie Erlernen eines guten Zeitmanagements, Ernährung, Yoga, Meditation oder Kunsttherapien. Der dritte Teilbereich beruht auf einer ungewöhnlichen Curriculumsergänzung um Themen wie persönliches Wachstum, Selbstreflektion und professionelle Entwicklung der Studierenden in Form von Workshops. Dies solle den Studenten helfen, ihre Fähigkeiten, Werte und Überzeugen besser zu ergründen und diese Erkenntnisse für ihre persönliche und berufliche Laufbahn zu nutzen. Denn die Entwicklung der persönlichen Identität komme neben dem fordernden Medizinstudium häufig zu kurz. Langzeitergebnisse zur Wirksamkeit des „Vanderbilt-Modells“ stehen zwar noch aus, aber eine hohe Teilnehmerzahl und -zufriedenheit sprechen für sich. Das studentische Wohlbefinden wird in diesem Programm zu einem Maßstab für die Qualität der universitären Ausbildung.
Psychiater Dr. Bernhard Mäulen beobachtet schon lange: „Ärzte sind denkbar schlecht darin, sich Hilfe zu holen, und die Patientenrolle anzunehmen, fällt vielen Kollegen schwer. Das kann daran liegen, dass es nicht genügend Rollenvorbilder gibt.“ Der pflegliche, gesunde Umgang mit den eigenen Bedürfnissen sollte aber idealerweise Voraussetzung einer medizinischen Tätigkeit sein. Denn wie soll man glaubhaft etwas vermitteln, authentisch wirken und handeln, wenn dieselben Grundsätze nicht auch für die eigene Person gelten? Auch die Autoren von „Healing Medicine's Future“ sprechen sich für einen anderen Umgang der Helfer mit den eigenen Problemen aus und betonen die Bedeutung, die die Gestaltung des Klimas der modernen medizinischen Ausbildung für das Wohlergehen zukünftiger Generationen junger Mediziner haben wird. Sie plädieren für vermehrte Selbstfürsorge im Sinne von frühzeitigem Erkennen und Anerkennen von Schwierigkeiten und dem Mut, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. Es sei kein Zeichen von Schwäche, offen über Fehler und die eigenen Grenzen zu sprechen, im Gegenteil: erst dann können wirkliches Helfen und Wachsen der Persönlichkeit beginnen und diese Grenzen auch überwunden werden. Die Initiativen zur Destigmatisierung müssten vor allem schon früh an den Universitäten und von Dozenten gefördert und idealerweise vorgelebt werden. Dr. Robert Wah, ehemaliger Präsident der AMA, bringt die Thematik auf den Punkt: „Der wichtigste Patient, für den wir zu Sorgen haben, ist der, den wir im Spiegel sehen.“