Eine neue Form der Meditation, die kontemplative Dyade, zeigt: Der direkte Austausch von Gefühlen steigert die Verbundenheit – auch bei untereinander fremden Personen. Lässt sich die Methode auch nutzen, um psychische Erkrankungen mit sozialen Defiziten zu behandeln?
Der Mensch ist ein soziales Wesen und Einsamkeit belastet ihn. Er leidet nicht nur psychisch, Einsamkeit macht ihn auch körperlich krank. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben nun gezeigt, dass eine neue Form täglicher Meditation die soziale Verbundenheit untereinander steigern und das Gefühl von Einsamkeit reduzieren kann: die sogenannte kontemplative Dyade. Diese setzt im Gegensatz zu traditionellen, allein im Stillen für sich praktizierten Techniken auf lautes Meditieren in Form hochkonzentrierter Dialoge – sei es von Angesicht zu Angesicht oder über eine spezielle Smartphone-App. Zwei Menschen sitzen sich gegenüber: Der eine erzählt von einer unangenehmen Situation, die er am Tag zuvor erlebt hat, wie etwa von einem Streit mit dem Ehepartner oder einer Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen. Er erzählt auch, wie sich der Streit körperlich angefühlt hat. Anschließend beschreibt er ein Erlebnis, für das er in den letzten 24 Stunden besonders dankbar war. Als eine neue Form täglicher Meditation kann die kontemplative Dyade die soziale Verbundenheit zwischen einander fremden Menschen steigern und so das Gefühl von Einsamkeit reduzieren ©MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften Die andere Person hört aufmerksam zu und beginnt so, Empathie für den Erzähler zu entwickeln. Während er spricht, hört der andere aufmerksam zu, ohne das Gesagte durch Worte oder Mimiken zu kommentieren – und umgekehrt.
„Wir wollten herausfinden, ob diese von uns entwickelte neue Form der täglichen kontemplativen Dyade dazu beitragen kann, die soziale Verbundenheit zwischen Menschen zu stärken, selbst wenn diese sich vorher nicht kennen“, sagt Tania Singer. Sie leitet das ReSource Projekt, eine neunmonatige Längsschnittstudie, die die Auswirkungen von mentalem Training auf Wohlbefinden sowie soziale, emotionale und geistige Fähigkeiten untersucht. Und tatsächlich: „Nach jeder Dyade berichteten die Teilnehmer, dass sie sich ihrem Gegenüber nach der gemeinsamen Übung deutlich näher fühlten als zuvor. Im Laufe unseres täglichen zehnminütigen Trainings an fünf Tagen pro Woche über einen Zeitraum von sechs Monaten hinweg teilten die Menschen so zunehmend persönlichere Gedanken und Gefühle“, erklärt Bethany E. Kok, Erstautorin der dazugehörigen Originalpublikation.
„Sie bauten damit eine emotionale Nähe zueinander auf - obwohl der Dialogpartner jede Woche aufs Neue wechselte und die Übungseinheiten meist statt von Angesicht zu Angesicht über eine eigens entwickelte Smartphone-App durchgeführt wurden“, so Kok weiter. Die Neurowissenschaftler schlussfolgerten daraus, dass sich die Teilnehmer nicht nur ihrem direkten Partner innerhalb der Dyade näher fühlten, sondern den Menschen im Allgemeinen. Seit einiger Zeit werden kontemplative Dyaden als eine vielversprechende Methode diskutiert, um die persönlichen sozialen Fähigkeiten zu schulen. „Wir haben nun den ersten wissenschaftlichen Beweis dafür geliefert, dass dieser kurze tägliche Austausch von Gefühlen und Gedanken ein wirkungsvolles Mittel sein kann, um die Menschen einander innerlich näher zu bringen“, erklärt Kok. „Aus früheren Studien wissen wir, dass die persönlich wahrgenommene Verbundenheit zu den eigenen Mitmenschen wiederum dazu beiträgt, dass Menschen ein längeres, gesünderes und vor allem glücklicheres Leben führen.“
Innerhalb ihrer Studie konzentrierten sich die Wissenschaftler um Singer auf zwei Formen der kontemplativen Dyaden: die affektive und die perspektivische. Die eingangs beschriebene Szene spiegelt dabei die affektive Variante wider, bei der eine Person jeweils eine eigens gerade erlebte, besonders emotionale Situation aus eigener Sicht beschreibt. Im Gegensatz dazu schildert der Sprecher in der perspektivischen Dyade zwar ebenfalls eine aktuelle Begebenheit. Jedoch versetzt er sich diesmal in die Rolle eines Persönlichkeitsanteils von sich selbst: Wie hätte die innere besorgte Mutter, das neugierige Kind oder die gestresste Angestellte diese Situation wahrgenommen und erlebt? Der Zuhörer versucht wiederum, diese neue Perspektive nachzuvollziehen und auszuloten, aus wessen Sichtweise berichtet wird. „Sowohl die affektive als auch die perspektivische Form der Dyade haben dazu beigetragen, dass sich einander unbekannte Menschen stärker miteinander verbunden fühlen“, erklärt Kok. Dabei habe sich die erste Variante jedoch als die erfolgreichere von beiden herausgestellt, wenn es um die Steigerung von sozialer Nähe geht, vermutlich weil sie sich besonders auf das emotionale Erleben und Mitteilen konzentriere.
Bisher haben die Wissenschaftler diese Zusammenhänge nur an erwachsenen Studienteilnehmern ohne psychische Beschwerden untersucht. „Interessant wäre es nun herauszufinden, ob sich diese neuen Methoden auch nutzen lassen, um die sozialen Fähigkeiten von Kindern zu fördern oder um psychisch kranken Menschen zu helfen, die besonders häufig unter Einsamkeit und sozialen Defiziten leiden“, so Singer. „Unabhängig davon bieten diese kurzen, zwischenmenschlichen Übungen eine einfache, wirkungsvolle Möglichkeit, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zu stärken. In unserer zunehmend hochindividualisierten, von Stress erfüllten Gesellschaft ist das heute wichtiger denn je.“ Originalpublikation: Effects of Contemplative Dyads on Engagement and Perceived Social Connectedness Over 9 Months of Mental Training Bethany E. Kok et al.; JAMA Psychiatry, doi: 10.1001/jamapsychiatry.2016.3360; 2016