Hypertonie, Übergewicht – und bald Nierensteine? Harnsteinleiden entwickeln sich in vielen Ländern zur Volkskrankheit und die Patienten werden immer jünger. Das zeigen aktuelle Studien. Das Problem ist größtenteils selbst verschuldet und seine Lösung einfach.
Nach Übergewicht, Typ-2-Diabetes und Hypertonie ist die nächste Volkskrankheit auf dem Vormarsch. Auch hierzulande steigt der Zahl der Patienten mit Urolithiasis – und sie werden immer jünger. Ein Forscherteam um Vidar Edvardsson von der Faculty of Medicine, School of Health Sciences, University of Iceland konnte in einer aktuellen Studie zeigen, dass die jährliche Inzidenz für Nierensteine bei isländischen Kindern zwischen 1995 und 2004 von 3,7 auf 11,0 pro 100.00 angestiegen ist. Sie hat sich somit verdreifacht. Noch deutlicher ist der Trend bei weiblichen Teenagern zwischen 13 und 17 Jahren: Hier fanden die Wissenschaftler zwischen 1985 und 2013 eine Vervierfachung. Die jährliche Inzidenz stieg von 9,8 auf 39,2 pro 100.000. Je nachdem, wo sich die steinartigen Ablagerungen befinden, spricht man von Nieren-, Harn- oder Blasensteinen. Die jährliche Prävalenz für Steinerkrankungen im Zeitraum 1999 bis 2013 lag bei 48 pro 100.000 für Jungs und bei 52 pro 100.000 für Mädchen. „Verschiedene Studien, vor allem aus den USA, bestätigen, dass Harnsteine unter Kindern und Jugendlichen immer öfter auftreten“, sagt Prof. Dr. Bernd Hoppe, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter des Subzentrums Kindernephrologie und Kindernierentransplantation am Zentrum für Kinderheilkunde der Uniklinik Bonn. Bislang sind Jungen häufiger von Harnsteinleiden betroffen als Mädchen. Mittlerweile seien Mädchen und Jungs fast gleich oft betroffen, teilweise drehe sich das Geschlechterverhältnis sogar um – zu Ungunsten der Mädchen.
In doppeltem Sinne verkehrte Welt also, denn der Blick in die Literatur zeigt: Bisher waren es vor allem Erwachsene zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr von Urolithiasis betroffen und in dieser Gruppe vor allem die Männer. Harnsteinleiden als verbreitetes und wachsendes Teenie-Problem ist hingegen neu. Insgesamt erkranken heute in Deutschland etwa dreimal so viele Menschen an Urolithiasis wie noch vor zehn Jahren. Fünf von 100 Menschen haben hierzulande mindestens einmal in ihrem Leben ein Harnsteinleiden. „Mittlerweile haben Harnsteine eine vergleichbare Prävalenz erreicht wie Diabetes“, ergänzt Hoppe. Auch wenn es für Kinder und Jugendliche in Deutschland keine aktuellen Studiendaten gibt, könne er auch hier den Trend bestätigen. „Ich sehe bei mir in der Ambulanz immer mehr Nierenstein-Patienten. Und wir führen in unserem Spezial-Labor immer öfter Urin- und Steinanalysen für Kinder und Erwachsene durch“, erläutert der Experte. Die Ursachen seien vielfach mit denen bei Typ-2-Diabetes und Übergewicht vergleichbar: Zucker- und fettreiche Ernährung mit viel Schokolade, Fritten und Würstchen. Darüber hinaus bewegten sich viele Patienten zu wenig und sie nehmen zu wenig oder die falsche Flüssigkeit zu sich. Vor allem Mädchen würden häufig viel zu wenig trinken. In Summe erhöhe sich so das Harnstein-Risiko deutlich, sagt Hoppe. Wichtig hier: Der lebensstilbedingte Anstieg der Prävalenz hat nichts mit Harnsteinen zu tun, die sich in Folge seltener Stoffwechselerkrankungen bilden – deren Häufigkeit ist seit Jahren konstant. Ein Verdacht auf eine Stoffwechselerkrankung müsse unbedingt und frühzeitig in den Fachzentren für pädiatrische Nephrologie mittels Stein- und Urinanalysen geklärt werden. Sonst droht die frühe Niereninsuffizienz. Zu den in Frage kommen Stoffwechselerkrankungen zählen Cystinurie, Lesch-Nyhan-Syndrom, Oxalose oder Bartter-Syndrom. Die Therapie richtet sich nach der jeweiligen Ursache. Bei einem genetisch bedingten Defekt im Vitamin-D-Abbau etwa muss die Vitamin-D-Supplementation unbedingt und dauerhaft vermieden werden. Das sei im Säuglingsalter nicht weiter schwierig, allerdings gerate das oft in Vergessenheit, wenn die Patienten größer werden. „Dann leben die Patienten für einige Zeit in den USA oder in Commonwealth-Staaten wie England, Indien oder Australien, wo Milch und Milchprodukte Vitamin-D-supplementiert sind. Patienten, die das nicht wissen, werden über kurz oder lang mit Nierensteinen oder Nephrokalzinose symptomatisch und haben ein Niereninsuffizienzrisiko“, weiß Hoppe aus Erfahrung zu berichten.
Bei einem Harnstein-Patienten ohne genetische Stoffwechselerkrankung, dafür mit Adipositas und metabolischem Syndrom, könne man hingegen durch Lebensstilinterventionen sehr viel bewirken. Gemeinsam mit dem Patienten empfiehlt es sich, die folgenden Empfehlungen möglichst konsequent umzusetzen:
Darüber hinaus beeinflusst die Zusammensetzung des Harnsteins die Art der notwendigen Ernährungsumstellung, wobei es folgende Steinarten gibt:
Patienten mit Calcium-Oxalat-Steinen sollten beispielsweise auf oxalatreiche Lebensmittel wie Spinat, Kakopulver, Rhabarber, Gummibärchen oder Schokolade weitgehend verzichten. Das bedeute jedoch wiederrum nicht, dass etwa Patienten mit calciumhaltigen Steinen auf calciumreiche Lebensmittel (z.B. Milch, Joghurt, Käse) verzichten sollten. „Das treibt die Oxalsäureausscheidung nach oben und führt eher zu verstärkter Steinbildung“, erläutert Hoppe das komplexe Wechselspiel. So oder so empfiehlt es sich für alle Patienten, viel ungesüßte Flüssigkeit zu trinken. Von Softdrinks wie Cola oder Fanta sollten Kinder- und Hausärzte ihren Patienten abraten. Sie enthalten in der Regel viel Zucker – und Phosphorsäure, die mutmaßlich die Bildung von Nierensteinen begünstigt. Die Gabe von Medikamenten sei erst angezeigt, wenn verschiedene Urinanalysen zum Beispiel eine verringerte Citratausscheidung gezeigt hätten. Der behandelnde Arzt könne dann Citrat zum Einnehmen verordnen, welches die Löslichkeit von Harnsäure und Calciumoxalat im Urin verbessert. Auch die Einnahme von Magnesium als antikristalliner Faktor sei möglich. Bei einer Steinkolik werden in der Akuttherapie verschiedene Schmerzmittel gegeben, bei Kindern Ibuprofen, Paracetamol und Novalgin im Wechsel und unter Aufsicht des Arztes. Ansonsten müssen die Patienten wiederum viel trinken, um den Stein auszuscheiden. Falls das nicht funktioniert, muss der Urologe ran und den Stein entfernen.
Wer in seiner Praxis zudem bestimmte Risikopatienten hat, der sollte hellhörig werden, wenn diese typische Symptome wie etwa wiederkehrende Schmerzen in den Flanken haben und/oder sich Blut im Urin findet. Hierzu zählen Patienten mit Kurzdarm-Syndrom, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Mukoviszidose, Zystennieren oder einer Magen-Resektion wegen Adipositas. Bestimmte Wirkstoffe oder Wirkstoffklassen wie Aciclovir, Ampicillin, Amoxicillin, Ceftriaxon, Furosemid, Indinavir, Sulfonamide oder Triamteren erhöhen das Harnsteinrisiko ebenfalls. Gleiches gilt für hoch dosierte Vitamin-A- oder -C-Supplementation. Auch bei Harnwegsinfekten durch Proteus mirabilis bilden sich häufig Harnsteine. Abschließend empfiehlt Hoppe, jeden Nierenstein durch einen Nephrologen abklären zu lassen. Denn dieser sei immer das Symptom einer Erkrankung, die im Falle seltener Stoffwechselerkrankungen schnell in die Niereninsuffizienz führen könne. Zwar schädigten lebensstilbedingte Harnsteine die Niere nicht direkt, dennoch seien sie keineswegs harmlos. „Jeder Stein, der durch einen endoskopischen Eingriff entfernt oder mittels extrakorporaler Stoßwellenlithotripsie zertrümmert wird, ist für die betroffene Niere belastend und kann Schaden anrichten“, sagt Hoppe. Er empfiehlt auch hier, die Ursache frühzeitig abzuklären und gegenzusteuern.