Fakt ist: Es werden zu viele Antibiotika eingesetzt. Bleibt die Frage, ob Ärzte sie zu häufig aus Unwissenheit, Bequemlichkeit oder auf Wunsch des Patienten hin verordnen. Experten kritisieren, es gebe zu viele Wissenslücken – vor allem, wenn es um die Dauer der Einnahme geht.
„Ich möchte gern auf der sicheren Seite sein. Wahrscheinlich ist es nur eine virale Bronchitis, aber ganz sicher bin ich mir nicht.“ Wenn man sich die Häufigkeit der Antibiotika-Verordnungen anschaut, sind solche Gedanken eines Allgemeinmediziners nicht ganz abwegig. In den USA erhalten rund drei Viertel aller Patienten mit einem Atemwegsinfekt Antibiotika, obwohl Viren die überwiegende Zahl davon verursachen. In diesem Fall schaden die Bakterienkiller mehr als sie nützen. Ist es mangelndes Wissen, Unsicherheit oder Zeitmangel, dass sich der Antibiotikaverbrauch auf mehrere hundert Tonnen pro Jahr in Deutschland beläuft?
Wer Antibiotika verordnet, sollte einen guten Grund dafür haben, wer sie einnimmt, sollte seinen Arzt nach den Gründen fragen. Petra Gastmeier von der Berliner Charité meint wohl nicht nur die begrenzten Kenntnisse über Antibiotika bei Laien, wenn sie sagt: „Für den richtigen Umgang mit Antibiotika ist Wissen ganz entscheidend, doch da gibt es teils große Lücken, die wir schließen müssen.“ Pneumonie, Sepsis, schwere Haut- oder Weichgewebeinfektionen sind genauso wie Peritonitis oder Meningitis eine Indikation für den sofortigen Start einer antibiotischen Therapie. Eine Befragung unter Allgemeinärzten und Internisten ergab folgende Gründe für den Einsatz, wenn solche „harten Indikationen“ fehlten: Rund 44 Prozent nannten das bevorstehende Wochenende und Unsicherheit über den Krankheitsverlauf, 30 Prozent die Forderung des Patienten nach einem Antibiotikum beziehungsweise den Wunsch, bald wieder fit für die Arbeit zu sein. Für immerhin 14 Prozent war ein „unbekannter Patient“ Grund genug, die chemische Bakterienkeule zu schwingen. Sind die Verdachtsmomente für eine bakterielle Infektion ausreichend, ist die Sicherung von Probenmaterial wichtig - in ausreichender Menge. Wenn ein schneller Therapiestart notwendig ist, sollte der Arzt ungefähr wissen, welche Erreger für diese Infektion typisch sind und welche Antibiotika die Leitlinien dafür empfehlen. Dazu gehören auch Fragen an den Patienten nach einer relevanten Antibiotika-Allergie, nach einer möglichen Niereninsuffizienz oder einem Leberschaden.
Wer etwa einen Patienten mit einer ambulant erworbenen Pneumonie vor sich hat, bei dem sehen die Leitlinien Amoxicillin als Mittel der ersten Wahl vor. In Kombination mit einem ß-Lactamase-Inhibitor, erweitert sich das Wirkungsspektrum um mehrere Enterobakterienarten ebenso wie um manche Staphylococcus aureus-Isolate und Anaerobier. Bei einer Penicillinallergie sind orale Cephalosporine eine Alternative. Tetrazykline haben mit dem Problem einer zunehmenden Resistenzentwicklung zu kämpfen. Ihre Wirkung ist außerdem vom pH-Wert abhängig, sodass sie zum Beispiel in der Galle meist nicht eine ausreichende Wirkung erzielen. Ebenfalls immer mehr Resistenzen tauchen auch bei Makroliden auf. Insbesondere Pneumokokken und A-Streptokokken stellen sich immer besser auf diese Proteinsynthese-Inhibitoren ein. Erstaunlicherweise gehen die Verordnungen aus dieser Gruppe dennoch nicht zurück. Makrolide sind bei ambulant erworbenen Pneumonien, Exazerbationen von chronischer Bronchitis und Legionellosen indiziert. Azithromycin besitzt eine hohe Gewebegängigkeit und eine ungewöhnlich hohe Halbwertszeit von zwei bis vier Tagen. Eine Einnahme über 3-5 Tage hinweg entspricht damit der Wirkung einer 10-tägigen Einnahme von Erythromycin. Möglicherweise führt aber ein lange andauernder Antibiotika-Spiegel, der nicht bakterizid ist, auch zu Entwicklung weiterer unerwünschter Resistenzen. Diese Frage ist bisher noch nicht geklärt. Achtung bei Fluorchinolonen! Ciprofloxacin wirkt nur unzureichend gegen Pneumokokken bei ambulant erworbenen Atemwegsinfektionen. Moxifloxacin mit einem weiteren Wirkungsspektrum auch gegen S. aureus, Streptokokken und anderen Pneumonie-Erregern hat eine lange Halbwertszeit von 12 bis 14 Stunden. Ohne Gefahr von subtherapeutischen Spiegeln reicht daher die einmalige Einnahme pro Tag.
Ein Laborbefund mit erhöhten Entzündungswerten ohne Erregernachweise ist noch keine Indikation für eine antibiotische Therapie, jedoch Grund für eine intensive Suche nach dem Auslöser. Ein Bakteriennachweis in Abstrichen ist möglicherweise nur ein Hinweis auf eine lokale Kolonisation und rechtfertigt nicht unbedingt den systemischen Einsatz eines Antibiotikums. Ebenso deutet beispielsweise E. coli im Rachenabstrich nicht auf eine generelle Infektion hin. Die grüne Farbe des Sputums bei Husten ist kein sicherer Hinweis auf eine bakterielle Infektion, die den Antibiotikaeinsatz notwendig macht. Wie lange soll der Patient Antibiotika bekommen? Solange, bis die Packung aufgebraucht ist? Etliche Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass etwa eine Verkürzung um drei Tage oft kaum Unterschiede im antibiotischen Effekt ausmacht. Nach wie vor gilt bei fiebrigen Infekten der Grundsatz: „Drei Tage nach Entfieberung“. Diese Regel hat aber auch ihre Ausnahmen: Bakterien mit langer Generationszeit, wie etwa Mycoplasmen, Chlamydien, Legionellen, Coxiellen, Borrelien, Lues oder Tbc gehen nur bei länger anhaltenden hohen Plasmaspiegeln zugrunde.
Wer an COPD oder einer Pyelonephritis leidet und nach den entsprechenden Leitlinien behandelt wird, bekommt für fünf bis acht Tage beziehungsweise für sieben bis zehn Tage eine Antibiose. Je nach individueller Situation, Erreger oder Antibiotikum kann sich diese Dauer aber auch auf eine Spanne von bis zu 14 Tagen hinziehen. Sieht man von Patienten mit Meningitis oder einer Sepsis ab, reicht fast immer die orale Gabe von Antibiotika, um ausreichende Spiegel im Blut zu erzielen. Dabei sinken sowohl die Kosten als auch die Risiken, die immer beim Anlegen einer Infusion entstehen. Nach dem Erregertypus, Krankheitsbild und Halbwertszeit richtet sich auch die Dauer der Gabe. Bei einer Borreliose empfehlen Experten etwa Doxycyclin oder oder Amoxicillin über drei Wochen oder Azithromycin über zwei bis drei Wochen. Bei einer begleitenden Arthritis sind es aufgrund der langsamen Teilungsrate des Erregers vier Wochen.
Nicht nur die Verordnungszahlen zeigen, dass in Punkto Aufklärung über den verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika noch einiges zu tun bleibt. „RAI“ (Rationaler Antibiotika-Einsatz durch Information und Kommunikation) heißt ein Modellprojekt des BMBF, in dem Tier- und Humanmediziner zusammen mit Designern und Kommunikationsexperten Aufklärungsarbeit zunächst in Berlin, Brandenburg und Thüringen leisten sollen. Mit an Bord ist unter anderem die Charité, die FU Berlin, das Universitätsklinikum Jena und das Robert-Koch-Institut. Wer als Arzt etwa die von RAI entwickelte Website: „infozeptgenerator.de“ anklickt, bekommt nach der Registrierung auf Wunsch evidenzbasierte Informationen zu Atemwegsinfektionen, Behandlungsmaßnahmen und - wenn notwendig - passenden Antibiotika. Informationen, die den Patienten in verständlicher Lektüre-Form auch zu Hause darüber informiert, warum - oder auch nicht - er dieses oder jenes Antibiotikum bekommt und welche Alternativen es zu seiner derzeitigen Behandlung gibt. Eine iOS-App mit dem Namen „RAI Tap-Tool“ erlaubt es dem Hausarzt, sein eigenes Verordnungsverhalten zu dokumentieren und mit dem anderer Nutzer zu vergleichen. Damit möchte die Initiative das Bewusstsein für den verantwortungsvollen Einsatz der Wirkstoffe mit ökologischer Nebenwirkung stärken.
Eine Untersuchung zum Einsatz von Antibiotika in den Jahren 2008 bis 2014 deckte auf, dass Cephalosporine im Schnitt jedes Jahr um fast acht Prozent häufiger verordnet wurden. Im Hinblick auf Resistenzentwicklungen und Superinfektionen mit Clostridium difficile findet sich dagegen in keiner der aktuellen Leitlinien mehr eine Cephalosporin-Empfehlung für Atemwegserkrankungen und Pneumonie. Immerhin gaben deutsche Apotheken im Jahr 2015 rund 17 Prozent weniger Antibiotika aus als noch vor 10 Jahren. Der Gebrauch in der Klinik ist dabei freilich nicht berücksichtigt. „Insgesamt ist unsere Ausbildung noch nicht genügend auf diese neuen strengen Anforderungen ausgerichtet“, argumentiert etwa Johannes Hübner von der LMU München, „weshalb es inzwischen viele Kurse zum sogenannten Antibiotic Stewardship gibt. In diesem Programm können sich Ärzte aller Fachrichtungen hinsichtlich des rationalen, d. h. vernünftigen Einsatzes von Antibiotika weiterbilden.“ Mangelndes Wissen scheint noch immer eines der größten Probleme beim Einsatz von Antibiotika zu sein. Höchste Zeit, dass sowohl Arzt wie auch Patient davon etwas mehr bekommen - und letzter etwas weniger der gefährlichen Bakterienkiller.