Letzte Woche hatte ich die kleine Hausbesuchsrunde, was heißt, dass man normalerweise bereits nach 1,5 h fertig ist. Mir war das ganz recht, musste ich doch noch in die Autowerkstatt.
Als ich bei Patientin Nr. 2 angekommen war, einer lieben, älteren Dame, empfing sie mich schon an der Tür vollkommen aufgelöst.
"Frau Doktor, ich brauch was zur Beruhigung, ich bin heute so zitterig."
"Warum sind Sie denn so unruhig? Was ist denn passiert?"
Es stellte sich heraus, an diesem Tag war der ältere Bruder der Patientin überraschend verstorben. Er wohnte einige 100km weg und war mit Anfang 80 zwar nicht mehr gesund, aber ein so plötzliches Ableben war laut seiner Schwester nicht zu erwarten gewesen.
Ich setzte mich mit ihr auf die Couch und ließ sie erstmal erzählen.
Und wie sie erzählte. Von ihrem Bruder, wie er war, von den anderen Schwestern, die noch leben, von ihrer Mutter, die sie alle in der Nachkriegszeit alleine groß gezogen hatte, von ihrem Vater, der im Krieg verschollen war und den sie mit 4 Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Von ihrem Ehemann, der sich ihre Geschichten nicht mehr anhören möchte, von den Träumen, die sie jede Nacht hat und wo die ganzen Irren und Wirren des Krieges, ihre Flucht als kleines Kind durch halb Deutschland und die harte Zeit der Nachkriegszeit wieder hochkommen. Von ihren Kindern, die sie zwar sehr liebt, aber die ihr eigenes Leben führen und sich nicht ständig um ihre Mutter kümmern können.
Ich brauchte nicht viel mehr zu sagen als "Aha", "ich verstehe", "Achso" und "Hm-hm"
Nach einer guten Stunde verabschiedete ich mich von ihr. Die Autowerkstatt habe ich natürlich nicht mehr geschafft, ich hatte Mühe, noch die anderen Patienten vor Beginn der Nachmittagssprechstunde fertig zu bekommen.
War es das wert? Nüchtern betrachtet, sicherlich nicht. Ich hatte keine Mittagspause, musste mich bei den anderen Patienten für das Zuspätkommen entschuldigen und bezahlt bekommt man solch einen extral langen Hausbesuch natürlich auch nicht.
Und trotzdem würde ich das immer wieder machen. Weil ich am Ende des Gesprächs die Erleichterung in ihren Augen gesehen habe. Erleichterung darüber, einfach mal die Sorgen mit jemanden zu teilen. Weil ich aus genau solchen Gründen gerne meinen Job mache, wenn ich fühlen kann, dass ich einem Patienten in einer schwierigen Zeit eine Hilfe war. Das klingt zwar abgedroschen und kitschig, entspricht aber der Wahrheit. Und es war auch kein großes Opfer meinerseits, es hat mich nur eine Stunde meiner Zeit gekostet.
Achja, das Beruhigungsmittel hat sie dann nicht mehr gebraucht.
© Titelbild: Rubén Iglesias, flickr / CC-by