Werden Patienten nach einem Schlaganfall aus der Rehabilitation entlassen, kann ihr Fortschritt im Alltag nicht mehr beobachtet werden. Nun haben Forscher einen Anzug mit Sensoren entwickelt, der alle Bewegungen im Alltag erfasst und die Daten direkt an den Behandler übermittelt.
Jedes Jahr erleiden in Deutschland etwa 280.000 Menschen einen Schlaganfall. Weltweit sind 25,7 Millionen Menschen laut der Global Burden of Disease Study von 2013 betroffen. Dabei ist die Zahl der Todesfälle von 1990 bis 2013 deutlich gestiegen. Patienten, die einen Schlaganfall überleben, haben meist mit körperlichen Einschränkungen zu kämpfen. Viele sind in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Während der Rehabilitation üben sie, ihre Beweglichkeit zu verbessern und so auch im Alltag wieder besser zurecht zu kommen. Dabei werden die betroffenen Körperbereiche mit gezielten Übungen trainiert und Veränderungen mit standardisierten Tests erfasst. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine gezielte neurologische Rehabilitation den Gesundheitszustand der Patienten und ihre Fähigkeiten im Alltag deutlich verbessern und die Folgekosten des Schlaganfalls verringern kann. Sobald die Patienten jedoch aus der Reha-Klinik entlassen werden, ist es nicht mehr möglich, ihr Bewegungsverhalten im Alltag und die Verbesserungen oder Verschlechterungen zu erfassen. Dadurch bleibt unklar, wie die Betroffenen mit den Einschränkungen umgehen. Darüber hinaus ist es für den Behandler nicht möglich, auf eventuelle Verschlechterungen zeitnah mit gezielten Maßnahmen zu reagieren.
Nun hat ein Forscherteam um den Biomediziner Bart Klaassen von der University of Twente im niederländischen Enschede einen „Anzug“ mit Sensoren entwickelt, den Schlaganfallpatienten über längere Zeit in ihrem Alltag tragen können. Das neue System namens „Interaction“ besteht aus einem Hemd, einer Hose und Schuhen, in die 41 Sensoren integriert sind. Sie messen verschiedene Aspekte der Bewegung wie Muskelkraft oder die Weite und Geschwindigkeit von Bewegungen. Zusätzlich ist der „Anzug“ mit einer Technik ausgestattet, die alle Bewegungsdaten speichert, verarbeitet und über einen tragbaren Sender per Internet an den Behandler senden kann. Es ist laut der Forscher weltweit das erste Projekt, in dem die vollständigen Bewegungen von Patienten in ihrer häuslichen Umgebung erfasst wurden. Die neue Technologie könnte es ermöglichen, den Rehabilitationsprozess in der alltäglichen Umgebung des Patienten zu beobachten und zu begleiten, hoffen die Wissenschaftler. So könnte die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten verbessert und Pflegekosten gespart werden.
An der Entwicklung des „Interaction“-Anzugs war ein internationales Team aus Medizinern, Ingenieuren und Pflegefachkräften beteiligt. Zu diesem gehörten Forscher der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich sowie Mitarbeiter der privaten schweizer Cereneo-Klinik – einer Spezialklinik für Neurorehabilitation – und der Roessingh Research and Development AG, einem niederländischen Forschungszentrum für Rehabilitations-Technologie, das eng mit der University of Twente zusammenarbeitet. Klaassen hat im Rahmen des Projekts vor Kurzem seine Promotion abgeschlossen. In mehreren Untersuchungen hat das Team das tragbare System entworfen und an Schlaganfallpatienten erprobt. Welche Aspekte von Bewegungen erfasst werden sollen, wurde in Diskussionen mit Pflegefachkräften, Ingenieuren und Forschern festgelegt. Der „Anzug“ kann nun eine Reihe unterschiedlicher Aspekte von Bewegungen und Körperhaltungen erfassen: Etwa, ob jemand sitzt, steht oder läuft und die Geschwindigkeit, Häufigkeit und Dauer der Bewegungen. Bei den Beinen können Schrittlänge, die Balance und Stabilität beim Stehen und Gehen sowie das Strecken und Anwinkeln der Knie erfasst werden, bei den Armen die Position des Armes im Verhältnis zum Körper, das Ausstrecken des Arms, die Position der Hand und das Strecken und Anwinkeln des Ellenbogens.
In einer ersten Studie testeten die Forscher den Anzug an zwei Schlaganfallpatienten: einer 50-jährigen Patientin mit Einschränkungen im Bereich des linken Arms und einem 35-jährigen Patienten, dessen linkes Bein durch den Schlaganfall beeinträchtigt war. In einer weiteren Untersuchung trugen Schlaganfall-Patienten die Sensor-Kleidungsstücke drei Monate lang unter ihrer Kleidung. Dabei wurden auch die Rückmeldungen der Patienten einbezogen, um das System möglichst benutzerfreundlich zu gestalten. In den Untersuchungen konnten die Forscher nachweisen, dass das System in der Praxis funktioniert. „Es ist uns gelungen, alle relevanten Bewegungen zu modellieren und die Daten herauszufiltern, die für den Therapeuten von Bedeutung sind“, berichtet Klaassen. Um die Fülle der Daten auf eine knappe und präzise Art darzustellen, entwickelten die Wissenschaftler einen so genannten „Aktivitätsmonitor“: Eine graphische Zusammenfassung der wichtigsten Bewegungsdaten, die direkt an den Behandler weitergegeben werden kann. Darin sind zum Beispiel die Zeiträume, in denen der Patient gesessen, gestanden und gegangen ist und in denen er den linken und den rechten Arm bewegt hat, auf einer Zeitachse darstellt. So ergab eine Beispielauswertung der 50-jährigen Patientin, dass sie ihren beeinträchtigten linken Arm im gesamten Meßzeitraum deutlich weniger bewegt hatte als den rechten Arm. Auch die Richtung der Bewegungen kann in einer Graphik dargestellt werden. Diese zeigt dann zum Beispiel, dass in einem bestimmten Zeitraum mit der rechten Hand deutlich größere Bewegungen in verschiedene Richtungen gemacht wurden als mit der linken Hand.
Im Alltag über längere Zeit Kleidungsstücke mit Sensoren zu tragen, wurde von den Patienten nach Aussage der Forscher gut akzeptiert. Dennoch wollen Klaassen und sein Team in Zukunft Systeme entwickeln, die mit weniger Sensoren auskommen. „Das könnte zum Beispiel ein Anzug mit nur zwölf Sensoren sein. Dadurch könnte das System beim Tragen unauffälliger und weniger störend sein und sich noch besser für den Einsatz im Alltag eignen“, schreiben die Forscher. „Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass die Bewegungen so mit der gleichen Genauigikeit erfasst werden können.“ Zuvor hatten die Wissenschaftler in einer Auswertung der Forschungsliteratur herausgefunden, dass seit 2008 zwar die Zahl der Veröffentlichungen im Bereich Telemedizin deutlich zugenommen hat, die unterschiedlichen Technologien aber in den Studien nicht häufiger zum Einsatz kamen. Am häufigsten wurden Telemedizin-Systeme dabei bei älteren Erwachsenen und bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen eingesetzt. Klaassen und sein Team hoffen nun, dass ihre neue Methode in Zukunft breite Anwendungsmöglichkeiten finden wird. Sie könnte beim Monitoring unterschiedlicher Patientengruppen von Nutzen sein, etwa bei älteren Menschen, die nicht mehr so beweglich oder sturzgefährdet sind oder bei Patienten mit Parkinson-Erkrankung, multipler Sklerose und anderen neurologischen Erkrankungen.