Viele Wirkstoffe zeigen zweiphasige Dosis-Wirkung Beziehungen. Diese sind ein in der Natur häufig anzutreffender Adaptionsmechanismus, welcher auch als Hormesis bezeichnet wird. Hormesis liegt vor, wenn eine kleine Dosis einer in höherer Dosis schädlichen Einwirkung auf den Organismus einen positiven Adaptionseffekt auslöst. Geradezu modellhaft ist dieser Effekt bei Herzglykosiden zu beobachten.
Lebende Organismen verfügen über ausgeklügelte Mechanismen, sich auf Einwirkungen von außen und auf Änderungen in ihrer Umgebung einzustellen. Ein in der Natur häufig anzutreffender Adaptionsmechanismus ist das Prinzip der Hormesis. Hormesis liegt vor, wenn eine kleine Dosis einer in höherer Dosis schädlichen Einwirkung auf den Organismus einen positiven Adaptionseffekt auslöst. Hormesis bezeichnet somit eine Dosis-Wirkung Beziehung, welche charakterisiert ist durch eine Umkehr der Wirkung zwischen niedriger und hoher Konzentration eines Stressors, wobei unter Stressor generell ein auf den Organismus einwirkender Effekt verstanden wird, z. Bsp. ein chemischer oder biologischer Wirkstoff, ein mechanischer Effekt, radioaktive Strahlung und anderes mehr. Hormetische Effekte sind sowohl auf der Ebene ganzer Organismen als auch auf zellulärer und molekularer Ebene zu beobachten [1,2].
Erste wissenschaftliche Untersuchungen der Hormesis sind von dem Toxikologen Hugo Schulz bereits 1888 berichtet worden. Er beobachtete, dass geringe Mengen verschiedener Chemikalien das Wachstum von Hefe stimulieren, während größere Mengen es beeinträchtigen [3]. Doch die anfängliche, nicht zutreffende Gleichsetzung mit Homöopathie diskreditierte die Hormesis und verhinderte für Jahrzehnte eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Hormesis ist klar abzugrenzen von Homöopathie. Hormesis liegt vor, wenn der einzelne Organismus unmittelbar von der Einwirkung messbarer Konzentrationen eines in höherer Konzentration schädigenden Agenz profitiert. Homöopathie hingegen beruht auf anderen Prinzipien: Extrem geringe Konzentrationen unterhalb der Nachweisgrenze von Substanzen sollen als Heilmittel wirken.
Ausgehend von einem umfangreichen, gut dokumentierten empirischen Datenmaterial [4], welches zahlreiche Beispiele für den Adaptionsmechanismus Hormesis umfasst, wird dieser Effekt heute in der medizinischen und toxikologischen Forschung intensiv untersucht. (Wobei jedoch nicht immer die Bezeichnung „Hormesis“ verwendet wird, sondern stattdessen die Bezeichnung „zweiphasige Dosis-Wirkung Beziehung“ benutzt wird, auch um sprachlich die nach wie vor notwendige klare Abgrenzung zu Homöopathie zu gewährleisten.) In Medizin und Toxikologie werden derzeit zumeist nur lineare Dosis-Wirkung Beziehungen in der Beschreibung von Wirkungen chemischer und biologischer Wirkstoffe diskutiert. Das Phänomen der Hormesis kann deshalb in diesen Bereichen zu grundsätzlich neuen Erkenntnissen führen [5].
Bei vielen in der Medizin eingesetzten Wirkstoffen sind zweiphasige Dosis-Wirkung Beziehungen zu beobachten. Geradezu modellhaft ist dieser Effekt bei Herzglykosiden nachzuweisen [6]. Herzglykoside zeigen in niedrigen therapeutischen Dosierungen gegensätzliche Effekte zu höheren Dosierungen. Dieses Phänomen ist sowohl auf molekularer Ebene als auch bei Wirkungen an Patienten zu beobachten. In niedriger Dosierung stimulieren Herzglykoside die Na/K-ATPase (Natriumpumpe), in höherer Dosierung wird die Natriumpumpe blockiert [7]. In geringer Konzentration inhibieren Herzglykoside den Sympathikus, während sie ihn in höherer Konzentration stimulieren [8]. In Herz-Lungen Präparierungen an Hunden führen geringe Konzentrationen von Herzglykosiden zu einer Verringerung des Sauerstoffverbrauchs, höhere Konzentrationen erhöhen den Sauerstoffverbrauch [9]. Hormetische Dosis-Wirkung Beziehungen werden auch an Patienten beobachtet. In niedriger Dosierung verbessert Digoxin das neurohormonale Profil von Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz. Dosissteigerungen innerhalb des therapeutischen (nicht-toxischen) Dosisbereiches haben keine zusätzlichen positiven Effekte sondern zeigen nachteilige sympathomimetische Wirkungen [10,11].
Die hormetischen Dosis-Wirkung Beziehungen sind für alle Herzglykoside im Prinzip gleich. Innerhalb der therapeutisch möglichen, nicht-toxischen Dosierungen gibt es jedoch gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Herzglykosiden. Sarre hat die Wirkungen unterschiedlicher Konzentrationen der Strophanthusglykoside k- und g-Strophanthin (englisches Synonym: Ouabain) mit denen des Digitalisglykosid Lanatosid C - welches aus der Reihe der Digitalisglykoside physiko-chemisch und wirkungsmäßig den Strophanthusglykosiden am ähnlichsten ist - auf die Sauerstoffmangel-Toleranz von Angina Pectoris Patienten untersucht [12,13]. K-strophanthin (0.25 mg, IV-Applikation) und g-Strophanthin (3 mg, orale Applikation) verbessern die Sauerstoffmangel-Toleranz deutlich. Das Lanatosid C zeigt bei niedriger Dosierung (0,1 mg IV) einen schwach positiven Effekt, höhere Dosierungen von 0,2 mg und 0,8 mg IV hingegen verschlechtern die Sauerstoffmangel-Toleranz erheblich. K-Strophanthin und Ouabain verfügen also gegenüber Digitalis über einen breiteren Dosierungsbereich, in welchem sie positive Effekte zeigen. Auch wird deutlich, dass die oft beklagte geringe niedrige Bioverfügbarkeit des Ouabain nach oraler Applikation einen großen Vorteil darstellt: nachteilige Wirkungen hoher Konzentrationen, wie sie nur durch IV-Applikation erzielt werden können, werden bei oraler Gabe verhindert.
Diese Ergebnisse verdeutlichen die hormetische Natur der Herzglykoside. Die in der klinischen Praxis vielfach beobachtete Sonderstellung der Strophanthusglykoside in der Behandlung ischämischer Herzkrankheiten wird bestätigt. Die hormetische Wirkung ist ein weiterer Hinweis auf die Aktivierung körpereigener Adaptionsmechanismen durch Strophanthin.
Literatur
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[6] Fürstenwerth H. Why whip the starving horse when there is oats for the starving myocardium? Am J Ther. 2014 Sep 24. [Epub ahead of print]
[7] Godfraind T. Stimulation and inhibition of the Na+/K+-pump by cardiac glycosides. In: Erdmann E, Greeff K, Skou JC, eds. Cardiac Glycosides 1785–1985. New York, NY: Springer Verlag; 1986:381–393.
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[10] Newton GE, Tong JH, Schofield AM, et al. Digoxin reduces cardiac sympathetic activity in severe congestive heart failure. J Am Coll Cardiol. 1996;28:155–161.
[11] Gheorghiade M, Hall VB, Jacobsen G, et al. Effects of increasing maintenance dose of digoxin on left ventricular function and neurohormones in patients with chronic heart failure treated with diuretics and angiotensin-converting enzyme inhibitors. Circulation. 1995;92:1801–1807.
[12] Sarre H. Indikation der verschiedenen Herzglykoside bei ambulanter Behandlung von Herzkranken. Die Medizinische Welt. 1951;20:1065–1070.
[13] Sarre H. Strophanthinbehandlung bei Angina pectoris. Therapiewoche. 1952;3:311–314.