Am 26. Januar 2015 hat Martina Lenzen-Schulte auf der Wissenschaftsseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung alle Vorurteile, die in der Bevölkerung gegen Psychopharmaka bestehen, schon im Titel „Wenn Psychopillen das Gehirn schrumpfen lassen“ auf den Punkt gebracht. Man hätte das nicht von einer seriösen Zeitung erwartet, aber Titel aus der Boulevardpresse ziehen eben auch in der FAZ. Es stellt sich die Frage, was die Autorin eigentlich mit „Psychopillen“ meint. Sind hier die Medikamente, die der Psychiater als Antipsychotika oder auch Neuroleptika kennt, gemeint? Medikamente, die seit 60 Jahren die Therapie von Patienten mit schizophrenen Psychosen revolutioniert haben und aus der Behandlung gar nicht mehr wegzudenken sind? Medikamente, die oft innerhalb von wenigen Tagen Verfolgungswahn und Halluzinationen zum Verschwinden bringen, Phänomene, die für viele Patienten extrem quälend sind und sie oft in den Suizid treiben? Weiß die Autorin, wovon sie schreibt, oder stand sie womöglich unter dem Einfluss von „Psychopillen“ ganz anderer Art, als sie über einen möglichst reißerischen Titel nachdachte?
Inhaltlich ging es mal wieder um das Thema der Hirnvolumenverminderung unter Therapie mit Antipsychotika, und auch wenn Frau Lenzen-Schulte den Eindruck entstehen lässt, dass sich die DGPPN nur ungern dem „äußerst heiklen und wenig geliebten Thema“ annehme, so ist auch das leider nicht richtig. Die Kollegen Aderhold und Weinmann vertreten ihre Thesen seit vielen Jahren in nahezu unveränderter Form, und schon vor fast fünf Jahren, am 1.6.2010, hat die DGPPN dazu eine Stellungnahme verfasst, die hier zu lesen ist. Die Datenlage hat sich seitdem nicht wesentlich verändert. Auch ich habe dazu hier schon einen Beitrag verfasst. Es hätte Frau Lenzen-Schulte zur Ehre gereicht, das Thema sauber zu recherchieren und nicht völlig einseitig darzustellen. Das wäre gut für ihre Zeitung gewesen, vor allem aber gut für viele Patienten, die durch eine so einseitige Presse leider verunsichert werden und von ihren Psychiatern immer wieder differenziert über Nutzen und Risiken der Pharmakotherapie aufgeklärt werden müssen.
Es mag durchaus sein, dass die antipsychotische Therapie langfristig zur Hirnvolumenminderung beiträgt, wie man sie bei Patienten mit Schizophrenien beobachtet. Die im FAZ-Artikel zitierte Literatur belegt dies jedoch keineswegs so eindeutig, wie Frau Lenzen-Schulte dies im Sinne von Aderhold und Weinmann darstellt. Alle zitierten Studien haben methodische Mängel. Es gibt bisher weltweit keine einzige Studie, die prospektiv Patienten randomisiert entweder medikamentös behandelt oder eben unbehandelt langfristig verfolgt hätte. Nur mit einer solchen Studie sind Hirnvolumenveränderungen wirklich als Medikamenteneffekte zu identifizieren.
Frau Lenzen-Schulte schreibt: „Dabei lassen verlässlich konzipierte Studien immer deutlicher erkennen, wie gut frühe, flexible Dosisreduktionen und ein ärztlich überwachtes Absetzen der Antipsychotika den Patienten tun. So zeigte unlängst eine wichtige Untersuchung einmal mehr, dass dann doppelt so viele der Erkrankten ihren Alltag wieder selbständig bewältigten, als wenn die Medikation fortgeführt wurde („Jama Psychiatry“, Bd. 70 (9), S. 913).“ Ich habe genau diese – zweifellos wichtige - Publikation am 8.9.2013 hier kommentiert. Weiß Frau Lenzen-Schulte (oder haben Aderhold und Weinmann es ihr einfach verschwiegen?), dass es bei 50% der Patienten, bei denen ein Absetzen der Medikation nach Studiendesign geplant war, überhaupt nicht möglich war, die Medikation zu stoppen? Weitere 30% mussten die Medikation sehr bald wieder ansetzen, weil sie ein Rezidiv der Erkrankung hatten, und nur 20% blieben während der Beobachtungsdauer wirklich, wie eigentlich geplant, ohne antipsychotische Behandlung.
Dies differenziert darzustellen, wäre womöglich zu kompliziert gewesen, denn einfache Wahrheiten, die gut ins öffentliche Bild passen, lassen sich einfacher verkaufen. Nur so ist zu erklären, dass die Autorin des Artikels zum Schluss auch noch die britische NICE-Guideline unvollständig zitiert. In dieser wichtigen Behandlungsleitlinie werden zwar für jeden an einer Schizophrenie erkrankten Patienten verhaltens- und familientherapeutische Maßnahmen empfohlen. Ist es aber von einer Journalistin zu viel verlangt, auch darauf hinzuweisen, dass auch in der NICE-Guideline die medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika der Grundpfeiler der Behandlung ist? Weiß Frau Lenzen-Schulte nicht – oder hat sie einfach nur schlecht recherchiert -, dass es auch in der allerneuesten Version der Nice-Guideline von 2014 heißt: „Given that there are no consistent reliable predictors of prognosis or drug response, the 2009 guideline, as well as other consensus statements and guidelines, generally recommend that pharmacological relapse prevention is considered for every patient diagnosed with schizophrenia“ (NICE, 2014, S. 321)?
Schlechter Journalismus beginnt schon beim Titel – das wissen wir nicht erst seit dem Erscheinen der Zeitung mit den großen vier Buchstaben.
Literatur:
National Institute for Health & Clinical Excellence (NICE). Psychosis and schizophrenia in adults – treatment and management (updated edition). The British Psychological Society and The Royal College of Psychiatrists, 2014. Sie finden diesen Beitrag auch hier. Bildquelle (Außenseite): Allan Ajifo, flickr