Angst, Verzweiflung und Depression sind bei Krebserkrankungen keine Seltenheit. Medikamente zur Behandlung des Distresses sind bisher nicht erhältlich. Ein Pilz-Halluzinogen soll Krebspatienten im Endstadium nun langfristig helfen. Wie es wirkt, ist allerdings noch unklar.
Einer Metaanalyse aus dem Jahr 2011 zufolge sollen etwa 30 bis 40 Prozent [Paywall] der Krebspatienten im Krankenhaus an einer Gemütsstörung leiden. Dies hat zur Folge, dass die Therapietreue sinkt, die Lebensqualität abnimmt und sich das Suizidrisiko erhöht. Depressionen und Angststörungen werden bei Krebspatienten mit Antidepressiva und – seltener – mit Benzodiazepinen behandelt. Diese Medikamente können allerdings nur selten den Betroffenen helfen.
Das Indolalkaloid Psilocybin findet man insbesondere in Pilzen aus der Gattung der Kahlköpfe (Psilocybe). Ein in Mitteleuropa verbreiteter Vertreter ist zum Beispiel der Spitzkegelige Kahlkopf (Psilocybe semilanceata). Die Wirkung dieser Zauberpilze, wie sie auch genannt werden, ist dem LSD ähnlich – wenn diese auch nicht so stark ist: Neben einer Intensivierung/Verfremdung von optischen und akustischen Wahrnehmungen, größten Glückgefühlen oder Panikattacken wirken psilocybinhaltige Pilze auch psychedelisch. Gedanken, die ins Unterbewusstsein verdrängt worden sind, kommen zurück und man entwickelt ein tiefergehendes Verständnis für unbeachtete Dinge. Wie sie wirken, hängt sowohl von der Dosis als auch von der Erwartung als auch der Stimmung des Konsumierenden sowie dem Gesamtkontext des Konsums ab. Neben gastrointestinalen Symptomen wie Erbrechen und Durchfall, kann der Verzehr von Zauberpilzen auch zu Flashbacks oder – sehr selten – fortbestehende Wahrnehmungsstörungen nach Halluzinogengebrauch (HPPD) verursachen. Die Wirkung des Psilocybins beginnt nach etwa drei Stunden abzuklingen und hält bis 6 Stunden an. Der Zauberpilz "Spitzkegeliger Kahlkopf" ist u. a. in Deutschland heimisch. Quelle: flickr, Dr. Hans-Günter Wagner
Dass Psilocybin Depressionen und Angststörungen positiv beeinflussen kann, konnten bereits frühere Studien zeigen. Charles Grob vom LA BioMed beispielsweise hatte 2011 in einer Pilotstudie zwölf Patienten im Alter zwischen 36 und 58 Jahren das Halluzinogen verabreicht. Die Probanden litten an einer Krebserkrankung im Endstadium und hatten eine Angststörung entwickelt. Nach der Psilocybin-Gabe verbesserten sich Stimmungslage, Depression und Angst der Studienteilnehmer der Verumgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Wirkung hielt auch nach Studienende noch an. Vier Jahre später, im Jahr 2015, fanden Schweizer Forscher [Paywall] heraus, dass Psilocybin die Verarbeitung von negativen Emotionen in Angstzentrum des Gehirns, der Amygdala, hemmt. Diese Gehirnregion entscheidet, ob Informationen aus der Umwelt bedrohlich sind oder nicht. Ist sie überaktiv, können Angstreaktionen oder Depressionen entstehen. David Nutt von dem Imperial College London testete im Mai 2016 Psilocybin an zwölf Personen mit mittelschwerer bis schwerer Major-Depression. Alle Patienten berichteten bei der ersten Nachuntersuchung nach einer Woche, dass sich ihre Beschwerden gebessert hätten, acht der zwölf Patienten erreichten sogar eine vorübergehende Remission. Bei sieben Teilnehmer hielt der positive Effekt auch nach drei Monaten noch an. Zu Bedenken ist allerdings, dass den Teilnehmern in Vorgesprächen die Wirkung des Psilocybins erklärt wurde. Dies und die Tatsache, dass fünf der zwölf Patienten bereits vor vielen Jahren die Droge eingenommen hatten, könnte zu einer gewisse Erwartungshaltung geführt haben, wodurch wiederum die Wirkung des Psilocybins beeinflusst worden sein könnte.
Psilocybin selbst bewirkt keinen Rausch. Nach dem Konsum spaltet der menschlichen Körper von der Substanz eine Phosphatgruppe ab und wandelt so Psilocybin in die eigentlich psychoaktive Form Psilocin um. Dieses dockt im Gehirn an Serotonin-Rezeptoren des Subtyps 5-HT2A an und wirkt damit ähnlich wie Antidepressiva aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). In der Selektivität, der direkten serotonergen Wirkung und dem Einsetzen der Wirkung bestehen dennoch Unterschiede zwischen beiden Wirkstoffen. Wie die langfristigen Effekte des Psilocybins hervorgerufen werden, ist bisher unklar. Denn Psilocybin bindet nicht dauerhaft an den Serotonin-Rezeptor. Psilocybin ist ein Indolalkylamin. Seine chemische Struktur ähnelt der des Neurotransmitters Serotonin. Quelle: flickr, Tao Iln
Anfang Dezember wurden in der Fachzeitschrift „Journal of Psychopharmacology“ zwei weitere Studien veröffentlicht. Eine davon, die Baltimore-Studie, stammt von dem Forscher Roland Griffiths von der John Hopkins University School of Medicine. Dieser hatte die Wirkung des Pilz-Halluzinogens an 51 Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, die zudem auch an Depressionen und/oder Angststörungen litten, getestet. Ziel der doppelblinden Studie im Cross-Over-Desing war es, die Auswirkung von Psilocybin auf Depression, Lebensqualität sowie auf das kurz- und längerfristige Verhalten bzw. die Einstellung der Patienten zu erforschen. Die Teilnehmer erhielten entweder eine hohe Psilocybin-Dosis (22 oder 30 mg/70 kg) oder eine niedrige (1 oder 3 mg/70kg). Letztere soll laut den Forscher placeboähnlich wirken. Etwa fünf Wochen nach der ersten Behandlung folge eine weitere. Diesmal erhielten jedoch die Menschen aus der Verumgruppe das niedrig dosierte Psilocybin und umgekehrt. Behandelt wurden die 51 Leute in einem ästhetischen Raum, der ähnlich einem Wohnzimmer eingerichtet war. Dort mussten sie sich auf eine Couch legen und – um visuelle Reize abzublocken – eine Schlafmaske aufsetzen. Der Wirkstoff wurde in einer Kapsel mit Lactose als Füllstoff verabreicht. Während sie entspannende Musik hörten, sollten die Studienteilnehmer ihre Aufmerksamkeit ihrer inneren Erfahrung widmen. Bis zu sechs Stunden nach Psilocybin-Gabe wurden in regelmäßigen Abständen die Vitalfunktionen kontrolliert. Laut den Wissenschaftlern traten keine ernsthaften Nebenwirkungen auf. Neben dem Anstieg des systolischen (34 Prozent) und diastolischen (13 Prozent) Blutdrucks registrierten sie bei 15 Prozent der Teilnehmer Übelkeit oder Erbrechen und bei 32 Prozent psychologische Symptome.
Die zweite Untersuchung stammt von dem Wissenschaftler Stephen Ross von der New York University School of Medicine. An der doppelblinden, placebokontrollierten Studie nahmen 29 Menschen, die an einer Krebserkrankung (zwei Drittel im Stadium III oder IV) sowie an Depressionen oder Angststörungen aufgrund der Krebserkrankung litten, teil. Diese erhielten neben einer Psychotherapie entweder Psilocybin (0,3 mg/kg entspricht 21 mg/70kg) oder 250 mg Niacin. Grund dafür, warum die Wahl auf Niacin als Placebo fiel, ist folgender: die Substanz löst durch eine Gefäßreaktion einen Flush, eine anfallsweise auftretende Rötung, aus. Dies sollte verhindern, dass die Patienten zwischen Placebo und Wirkstoff unterscheiden konnten. Die zweite Behandlung erfolgte sieben Wochen nach der Ersten. Auch bei der New York-Studie erfolgte ein Cross-Over, d. h. die Teilnehmer der Placebo-Gruppe erhielten nun das Psilocybin und umgekehrt. Als unerwünschte Wirkungen traten Kopfschmerzen (28 Prozent), Übelkeit (14 Prozent), erhöhter Blutdruck (76 Prozent) auf. Die Studienautoren Anthony Bossis (links), Stephen Ross (Mitte) und Jeffrey Guss (rechts). Quelle: NYU Langone Medical Center
Beide Forschergruppe berichten von einem ähnlichen Behandlungserfolg. Bei etwa 80 Prozent der Teilnehmer hatte sich – auch sechs Monaten nach der Psilocybin-Einnahme – Depression und Angststörung gebessert. Laut den Baltimore-Forschern war es bei 65 Prozent bzw. 57 Prozent zu einer Remission der Depression bzw. Angststörung gekommen. „Das interessanteste und bemerkenswerteste Ergebnis ist, dass eine einzige Psilocybin-Dosis – die vier bis sechs Stunden anhält – eine lang anhaltende Reduktion der Depression und Angststörung bewirkt,“ so Roland Griffith in einer Pressemitteilung. Die Teilnehmer zeigten zudem eine positivere Lebenseinstellung, eine bessere Stimmungslage und erhöhte Spiritualität. Auch die New Yorker Wissenschaftler berichten unter anderem über eine verminderte Hoffnungslosigkeit sowie erhöhte Spiritualität, was sich wiederum positiv auf die Lebensqualität auswirkte. Die Studienteilnehmer hatten zwar weiterhin Angst vor dem Tod, sahen dem Sterben jedoch gelassener entgegen. Zum Selbstversuch, ohne dass ein Arzt oder andere fachkundige Person anwesend ist, sei nach Koautor Anthony Bossis Psilocybin nicht geeignet. „Die Psilocybin-Therapie funktioniert nicht bei jedem. Einige Gruppen wie beispielsweise Menschen mit Schizophrenie oder Jugendliche sollten nicht damit behandelt werden,“ so der Wissenschaftler weiter. Limitiert werden beide Studien durch die begrenzte Teilnehmerzahl sowie der Tatsache, dass es keine Kontrollgruppe gab, die das Pilz-Halluzinogen nicht erhalten hatte. Dadurch werden Aussagen, ob und wie viele der Krebspatienten sich nach sechs Monaten auch ohne Halluzinogen mit dem Tod abgefunden hätten. Zudem lässt sich die Wirkung der Pilzdroge nicht ganz verheimlichen. Daher ist es rein theoretisch möglich, dass die Teilnehmer erraten haben, welcher Gruppe sie zugeordnet waren. Dieses Wissen hätte sich wiederum auf die Ergebnisse auswirken können.