Fällt das Wort „Suchterkrankungen“, denken die meisten zunächst an die „typischen“ Süchte: Alkohol, Nikotin, härtere Drogen, vielleicht noch Spiel- oder Esssüchte. An Medikamentenabhängigkeiten denkt man erst danach, zumal auch das betroffene Patientenklientel ein vollkommen anderes ist.
Mitten in der Nacht von Sonntag auf Montag um 3:45 Uhr klingelt mein Telefon. Das ist natürlich nicht ungewöhnlich, wenn man Bereitschaftsdienst hat. Diesmal ist es eine 40-jährige Frau. Sie hätte solche Ängste und Beklemmungen, wäre total unruhig, würde anfangen zu hyperventilieren. In einer Woche stünde ein großer Umzug an und sie wisse nicht, wie sie das alles schaffen solle. Ich frage am Telefon gleich nach Vorerkrankungen, regelmäßige Medikamenteneinnahme, nein nichts. Sie hätte so eine „Angstattacke“ vor Jahren schon einmal gehabt und da habe ihr eine Beruhigungsspritze wunderbar geholfen. Ob ich bitte, bitte vorbeikommen könne, sie hielte es nicht mehr aus. Da sie wirklich sehr belastet klingt, schäle ich mich zähneknirschend aus meinem warmen Bett und fahre zu ihr, in den 7 Kilometer entfernten Ort.
Ich werde in einem großen, gut eingerichteten Haus reingelassen. Kindersachen stehen herum, die Dame des Hauses emfpängt mich. Ihr Ehemann würde noch schlafen, er müsse früh raus. Äußerlich ist sie wirklich sehr unruhig und etwas fahrig und zittert. Vitalzeichen sind soweit in Ordnung. Ich frage sie nun nochmals nach Vorerkrankungen wie Depressionen, Angsterkrankungen etc.
Auf einmal rückt sie raus, ja sie sei schon seit Jahren an Depressionen erkrankt und habe bis vor kurzem drei verschiedene Antidepressiva eingenommen, unter anderen Venlafaxin und Escitalopram. Ihr Psychiater hätte sie vor kurzem abgesetzt. Auf meine Frage, ob sie denn nicht einen Notfallplan für solche Anfälle wie diesen inklusive Bedarfsmedikation mit ihrem Psychiater abgesprochen habe, antwortet sie nur, dass sie einen solchen Anfall bisher nur einmal vor ein paar Monaten hatte (am Telefon waren es noch Jahre gewesen). Damals hätte ihr auch jemand eine Spritze zu Beruhigung gegeben. Nun gut, sage ich, ich könnte Ihnen jetzt auch eine Spritze geben, ob sie das möchte?
Sie fängt an, herumzudrucksen, ach momentan hätte sie auch solche Angst vor Spritzen, ob sie denn nicht lieber Tabletten bekommen könne? Am besten als Rezept, damit sie „was für den Notfall“ da habe! Ihr Mann könne gleich zur Apotheke fahren und es holen, solange hielte sie es noch aus. Oder aber Diazepamtropfen, ginge das auch?
Ich hatte die ganze Zeit schon ein komisches Gefühl, bei dieser „Bitte“ wurde ich doch sehr hellhöhrig. Ein Rezept für das stark abhängig machende Diazepam? Ohne mich. Zum Glück habe ich immer zwei Tabletten Diazepam im Koffer. Davon bekommt sie eine. Genug, um sie über die restliche Nacht zu bringen, sodass sie sich morgen bei ihrem Hausarzt oder Psychiater vorstellen kann.
Diese Antwort passt ihr erwartungsgemäß gar nicht. Sie versucht noch, verschiedene Erklärungen zu finden, warum sie das Rezept nun doch sofort braucht, aber ich lasse mich nicht erweichen. Beim Aufnehmen der Daten fällt mir auf, dass ihre Hausärztin meine alte Arbeitsstelle ist. Leider war sie nie bei mir in Behandlung.
Am nächsten Tag gehe ich in meiner alten Praxis vorbei und erwähne, dass ich Frau Sowieso im Notdienst hatte und ob sie in der letzten Zeit mal in der Praxis gewesen sei? War sie. Drei Tage vor meinem Anruf. Sie wollte unbedingt ein Rezept für Diazepam haben, was ihr aber verwehrt wurde. Sie hat nämlich bereits eine Vorgeschichte und war jahrelang von Codein-Hustentropfen abhängig, und war dafür von Arzt zu Arzt gezogen, bis es irgendwann auffiel.
Nun scheint sie das Medikament gewechselt zu haben, die Methoden sind die gleichen geblieben. Leider macht es ihr das momentane Gesundheitssystem auch leicht, bei verschiedenen Ärzten, wenn sie sie alle nicht kennen, ihre „Drogen“ zu bekommen. Auch wenn die meisten Kollegen sicherlich viel vorsichtiger mit der Verordnung von Diazepam sind, als zum Beispiel von Codein-Tropfen, fürchte ich, dass sie mittlerweile ihre Wege und Mittel kennt.
Zum Beispiel das Rausklingeln des Bereitschaftsarztes mitten in der Nacht. Beinahe hätte ich ihr auch ein Rezept ausgestellt, weil ich der Diskussion müde war und einfach nur noch in mein Bett zurückwollte. Ich bin mir relativ sicher, irgendeiner wird schon auf sie reinfallen und ihr ihr gewünschtes Rezept ausstellen.
Nun zieht sie auch noch 400 km von hier weg. Das heißt, dort kennt sie keiner. Dort wird sie ihr Spiel wieder von vorne beginnen und eine ganze Weile damit Erfolg haben, bis es auffliegt. Dass sie das machen wird, ist klar, eine Krankheitseinsicht hat sie nie gehabt. Ich fürchte, eine lange Leidensgeschichte liegt noch vor ihr.