Es wird eng in den Notaufnahmen der Krankenhäuser. Patienten mit akuten Erkrankungen, aber ohne Bedarf an notfallmedizinischer Versorgung, machen sich breit. Dagegen lässt sich viel unternehmen. Aber nicht jede Maßnahme ist populär, wie etwa eine Notaufnahmegebühr.
Bundesweit klagen Kliniken über steigende Fallzahlen in ihrer zentralen Notaufnahme. Martina Helene Schmiedhofer vom Arbeitsbereich Rettungsstellen/Notfallmedizin der Charité Universitätsmedizin machte sich auf die Suche nach möglichen Erklärungen. Zusammen mit Kollegen hat sie 40 Patienten unter die Lupe genommen. Dabei erfasste sie sowohl medizinische Fakten als auch Beweggründe von Bürgern, ein Krankenhaus aufzusuchen.
Alle Befragten stellten sich bei der internistischen Notaufnahme am Campus Virchow Klinikum oder bei der zentralen Notaufnahme, Charité Campus Mitte, der Charité-Universitätsmedizin, vor. Über das Manchester-Triage-System (MTS) schätzten Ärzte die Schwere ihrer Symptomen ein. Anders als bei Kriegen oder Katastrophenfällen liegen dem MTS Prioritäten mit der Annahme zu Grunde, dass alle Patienten therapiert werden. Das Manchester-Triage-System. Quelle: Wikipedia Schmiedhofer befragte ausschließlich Patienten der Kategorien „normal“ und „nicht dringend“. Sie stellten sich wegen Symptomen und abnormen klinischen Befunden oder Labordiagnosen vor (15,5 Prozent). Dazu gehörten Kopfschmerzen, Synkopen, Vergrößerungen der Lymphknoten, erhöhte Transaminasen- und LDH-Werte. An zweiter Stelle rangierten Krankheiten der Haut und der Unterhaut wie Ekzeme, Utrikaria, Hauteruptionen oder Kontaktdermatitiden. Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes folgten an dritter Stelle (10,0 Prozent). Hier berichten Ärzte von Gelenkschmerzen, Schmerzen der Extremitäten oder Myalgien. Weiter ging es mit unterschiedlichen Krankheiten des Urogenitalsystems, des Nervensystems und der Atmungsorgane (je 7,5 Prozent). Genauso häufig traten Verletzungen und Vergiftungen auf.
Die Kollegin wollte klären, warum sich Patienten trotz augenscheinlich nicht lebensbedrohlicher Erkrankungen für eine Notaufnahme entschieden hatten. Sie fand unterschiedliche Motive. Jüngere, meist deutlich gesündere Studienteilnehmer schätzten den raschen, niedrigschwelligen Zugang zur Notaufnahme. Zitat: „Also, es sind halt auch oft die extremen Wartezeiten, also dass man so ein, zwei, drei Monate warten muss beim Arzt (…) wenn ich irgendwas Dringendes hab, dann gehe ich meistens ins Krankenhaus und wenn es nicht dringend ist, dann therapiere ich mich halt so ein bisschen selber.“ Schmiedhofer spricht deshalb vom „Doc to go“. Aufgrund der permanenten Verfügbarkeit erweisen sich Notfallambulanzen als gute Alternative zu niedergelassenen Praxen – vor allem bei Terminschwierigkeiten. Teilweise zögerten Patienten mit länger andauernden Beschwerden die Entscheidung, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, selbst hinaus. In einigen Fällen stand Unzufriedenheit mit der niedergelassenen Versorgung hinter der Entscheidung. „Ich bin auch auf der Suche nach einem guten Hautarzt, denn die Hautärzte, die ich aufgesucht habe, von denen wurde ich wirklich jedes Mal enttäuscht“, erklärte ein Befragter. Patienten mit chronischen Erkrankungen denken eher an Leistungen der „Hightech“-Medizin im Klinikum. Dazu zwei Patientenstimmen. „Die Charité ist immer auf dem neuesten Stand, sagt man“, so ein Teilnehmer. Und ein anderer Patient äußert sich ähnlich: „Eine Freundin wurde hier stationär behandelt vor einiger Zeit und meinte, das ist eine super Klinik.“ Bleiben noch besorgte, beunruhigte Patienten. Sie sehen das Klinikum als komplementäre Welt zur Hausarzt- oder Facharztversorgung. Ein Beispiel: „Ich bin ja hier mit dem Herzen und war schon mit anderen Sachen hier, und ich fühle mich wohler, aufgehobener, weil ich hier mal eine tief liegende Thrombose hatte. Da bin ich in einem anderen Krankenhaus gewesen und da haben sie mich so als Simulant hingestellt.“ Helene Schmiedhofers Studie ist hinsichtlich der Stichprobe zu klein, um daraus repräsentative Aussagen abzuleiten. Die Arbeit zeigt trotzdem, wie Patienten ticken. Um Lösungen sind Experten nicht verlegen. Dabei entstehen durchaus konträre Modelle.
Walk-in Medical Care Center in New York City. Quelle: Wikipedia Gesundheitspolitiker und Kassenvertreter sprechen sich klar für Portalpraxen aus. Vor Ort entscheiden Kollegen, ob eine Behandlung in der Praxis ausreicht oder ob die Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden. „Portalpraxen sind sinnvoll, denn hier werden die stationären und die ambulanten Kapazitäten optimal miteinander verzahnt. Darüber hinaus werden unnötige Klinikaufenthalte vermieden“, kommentiert Dr. Barbara Voß, Leiterin der TK-Landesvertretung Hessen. Dr. Angelika Prehn, Vorsitzende der KV Berlin, hat sich mit einem ergänzenden Vorschlag zu Wort gemeldet. Sie kann sich eine Notaufnahmegebühr von 20 Euro vorstellen, falls Patienten nicht per Rettungswagen eingeliefert werden. Sollte es sich dennoch um einen Notfall handeln, erhalten sie ihren Obolus wieder zurück. Dabei wären noch radikalere Lösungen denkbar. Patienten in den USA, in Kanada oder in skandinavischen Ländern schätzen sogenannte Walk-in-Kliniken. Dort erhalten sie 24 Stunden am Tag medizinische Hilfe. Selbst Ärzte loben derart niedrigschwellige Angebote. Doch sie sehen auch diverse Mängel: So kritisieren sie neben Qualitätsaspekten auch die fehlende Möglichkeit, Patienten langfristig zu behandeln. Retail-Klinken gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie sind in Supermärkten oder großen Einkaufszentren zu finden. Vor Ort erfassen MTA oder spezielle Pflegefachkräfte (Nurse Practitioners) die Symptome anhand diagnostischer Algorithmen. Bei Bagatellerkrankungen haben sie selbst die Berechtigung, zu behandeln: aus deutscher Sicht ein Sakrileg.