Das Wissenschaftliche AOK-Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen (WIdO) hat einen aktuellen „Ärzte-Atlas“ herausgegeben, der die ambulante haus- und fachärztliche Versorgung in Deutschland beschreiben soll - so treffsicher(?), dass man von einem „Gemeinsamen Märchen von der Überversorgung von WIdO und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)“ sprechen kann...
Denn unsere Ärztefunktionäre konnten und wollten dieser WIdO-Versorgungsforschung auf unterirdischem Niveau gar nichts Inhaltliches entgegensetzen.
Dabei fielen naiver Empirismus, Fehlannahmen, Voreingenommenheit und tendenziöse Auftragsforschung beim WIdO auf: Ein einziger Blick in den eigenen Terminkalender beim WIdO-Personal hätte genügt, um festzustellen, dass es dort Fehlzeiten wegen Krankheit, Fort- und Weiterbildung, Jahres- und Sonderurlaub, „Brückentagen“, Altersteilzeit und eingeschränkter Arbeitsfähigkeit – z. B. bei Wiedereingliederung – gibt.
Nicht nur den AOK-Personalabteilungen, sondern auch professionellen BWL-Personalentwicklern, ist bekannt, dass dies etwa 35 Prozent Mehrbedarf an Personal erfordert, um 100 Prozent Leistung zu erbringen. Beim Verhältnis von betrieblichen Personalkosten von 135 Prozent zu den tatsächlich gezahlten Bruttogehältern von 100 Prozent verhält es sich übrigens ähnlich.
Für die GKV-Vertrags-Fach- und Hausärzte wollten die WIdO-Forscher dies ausdrücklich nicht gelten lassen. „Bei Hausärzten errechnet das Institut einen Versorgungsgrad von 110 Prozent“, heißt im Klartext: eine Unterversorgung im Niveau von 75,4 Prozent!
Schaut man auf weitere „inhaltliche“ Ausführungen beim WIdO-„Ärzte-Atlas“, kann man aus epidemiologischer, medizinsoziologischer, BWL- und VWL-Sicht nur noch die Stirne runzeln. Bei der Darstellung: „Das Kassen-Institut verweist darauf, seit 1990 sei die Zahl der Vertragsärzte von rund 88.000 auf über 143.000 gestiegen“, besteht erkenntnistheoretischer und historischer Nihilismus.
1. Ist das Jahr 1990 exakt 25 Jahre, also ein Vierteljahrhundert her.
2. 1990 war das Jahr der deutschen Einheit („Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990“).
3. „Die Zahl der Vertragsärzte von rund 88.000“, damals für das Jahr 1990 im Ärzte-Atlas angegeben, bezog sich ausschließlich auf die alten Bundesländer der BRD. Deshalb waren die Kassenarzt-Nummern nur 5-stellig! Ohne eine Berücksichtigung der neuen Bundesländer der Ex-DDR. Das WIdO hat demzufolge sich selbst belogen und die 17 Millionen „Neubürger“ der DDR bzw. ihre ärztliche Versorgung schlicht und einfach vergessen!
4. Erst zum 3.10.1990 wurde die Deutsche Einheit nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 vollzogen. Quelle, auch fürs WIdO zugänglich: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Wiedervereinigung
5. Anfang 1991, nach Abwicklung vieler Ambulatorien in der Ex-DDR, waren etwa 120.000 Vertragsärzte in den alten und neuen Bundesländern registriert.
6. Von daher relativiert sich der Zuwachs auf aktuell 143.000 Vertragsärzte durch den demografischen Faktor (Überalterung), medizinisch-technischen Fortschritt in Diagnose, Untersuchung, Therapie und Palliation bzw. erhöhte Anspruchs- und Versorgungserwartungen („Zweitmeinung“, „AOK - Die Gesundheitskasse“) unserer Patienten.
Die vordergründig politisch motivierten, völlig unreflektiert erhobenen Daten im neuen Ärzte-Atlas des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) sind erkenntnistheoretisch, wissenschaftlich, sozial- und gesundheitspolitisch völlig wertlos. Sie haben mit seriöser Versorgungsforschung nichts gemein.
Mf+kG, Ihr Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund (z. Zt. Urlaub in Bergen aan Zee/NL)
Bildquelle (Außenseite): Jason Eppink, flickr / CC by