Vor einiger Zeit ging es hier in einem Blogbeitrag schon einmal um die Problematik medikamentenabhängiger Patienten im Notdienst. Nun musste ich erleben, was passiert, wenn der Patient sein vom Arzt verschriebenes Suchtmittel eben nicht mehr so einfach bekommt.
Am Bereitschaftstelefon ist eine junge Frau, die mir zunächst nur berichtet, ihr Mann bekäme seit Monaten wegen starker Rückenschmerzen Fentanylpflaster, diese seien nun alle und er hätte nun Entzugserscheinungen und Schmerzen. Weitere Nachfragen meinerseits lassen die Geschichte immer komplizierter klingen und so beschließe ich, hinzufahren und die Sache vor Ort zu klären. Nach längeren Erklärungen und Diskussionen stellt sich folgende Situation dar:
Ein junger Mann, Mitte 40, selbstständig, verheiratet, 4 Kinder, schönes Haus, hat seit 2 Jahren Rückenschmerzen. Er konsultiert verschiedene Ärzte, darunter auch Orthopäden, nichts hilft. Ein manifester Befund an der Wirbelsäule habe sich wohl nicht feststellen lassen. Er bekommt verschiedene Schmerzmittel, angefangen mit NSAR wie Ibuprofen, Diclofenac, über Tramadol und Tilidin, und für die Nervenschmerzen irgendwann Pregabalin. Ebenfalls vor ein paar Monaten fängt seine Hausärztin an, ihm Fentanylpflaster aufzuschreiben. Ebenfalls in steigender Dosierung, zunächst Wechsel alle 3 Tage.
Irgendwann und aus welchen Gründen auch immer kommt er auf die Idee, die Pflaster zu lutschen. So ist die Wirkung natürlich viel stärker. Am Ende hat er wohl ein bis zwei 50µg Fentanylpflaster am Tag gelutscht. Das ist schon eine ordentliche Dosis. Natürlich verbrauchte er so mindestens 3x soviel Pflaster wie eigentlich vorgesehen, da er sie ja eigentlich drei Tage kleben sollte. Trotzdem bekam er über Wochen immer wieder neue BTM-Rezepte über seine Hausärztin, in dem er immer wieder neue Ausreden erfand wie: Ich war schwimmen und es ist abgegangen, ich schwitze soviel, die Packung hat meine Frau aus Versehen weggeschmissen usw.
Keiner wurde wirklich misstrauisch in der Praxis. Am Ende war es seine Frau, der es komisch vorkam, dass er a) soviele Pflaster verbrauchte und b) ständig high zu sein schien, und die ihn zur Rede stellte. Daraufhin hat er zugegeben, die Pflaster zu lutschen. Dies hat er dann auch im Beisein seiner Frau seiner Hausärztin erzählt, die daraufhin auf Buprenorphinpflaster umstellte, allerdings nur in einer sehr kleinen Dosierung. Seine Ehefrau bekam die Pflaster in die Hand, mit der Weisung, ihm nur alle 3 Tage eins zu kleben. So ausgerüstet wurden beide in ihren geplanten Urlaub entlassen.
Es kam, wie es kommen musste, der Patient bekam massive Entzugserscheinungen. Schweißig, unruhig, Schmerzen am ganzen Körper, Zittern, Übelkeit, Erbrechen, alles. Die Buprenorphin Pflaster halfen gar nicht. Wie sollten sie auch, die Dosierung war zu klein und außerdem ist der Applikationsweg der falsche, vorher hat er den Stoff oral konsumiert, wenn man so möchte. Außerdem stellte sich heraus, dass er vor Jahren bereits alkoholabhängig war, dies aber wieder in den Griff bekommen hat. Das wusste seine Hausärztin auch. Somit hätte klar sein müssen, das für ihn ein erhöhtes Suchtrisiko besteht.
Nach einem langen Gespräch mit Patient und Ehefrau habe ich ihm eindringlich empfohlen, einen stationären Entzug zu machen. Ich hoffe, sie nehmen meinen Rat an. Die Symptome waren massiv ausgeprägt, selbst mein gespritztes Diazepam half nur wenig gegen die Unruhe.
Was mich an dieser Patientengeschichte so sehr erschreckt: Diese Leichtigkeit, mit der ein junger Mann ohne wirkliche fassbare Diagnose seiner Beschwerden über Monate ein so starkes Schmerzmittel bekommt, und als die Sucht langsam sichtbar wurde, bei niemanden in der Praxis die Alarmglocken angegangen sind.
Als der Patient von alleine zugegeben hat, dass er abhängig ist und Hilfe braucht, wurde er knallhart in den Entzug geschickt. Dies, denke ich, ist nicht mit Absicht geschehen, sondern aus Unwissen darüber, wie sehr man von Fentanyl abhängig sein kann. Ich fürchte, seine Hausärztin hat die Situation komplett falsch eingeschätzt.
Noch schlimmer finde ich fast, dass es die Ärztin war, die angefangen hat, ihm Fentanyl zu verschreiben und ihn so erst die Möglichkeit gegeben hat, abhängig zu werden. Warum ein Patient mit 2 Jahre bestehenden Rückenschmerzen mit hohem Schmerzmittelverbrauch noch keinen Schmerztherapeuten gesehen hat, erschließt sich mir auch nicht.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass Patienten und Angehörige nicht unbedingt immer die komplette Wahrheit erzählen und nur die Hälfte stimmt, ist es noch schlimm genug. Er hat seine Rezepte legal durch seine Ärztin bekommen.
Ein trauriges Beispiel dafür, wie wir Ärzte durch leichtfertige und unreflektierte Verschreibungsgewohnheiten für unsere Patienten anstatt zu helfen neue, große Probleme schaffen.