Sind die unterschiedlichen Stile im Umgang mit den Patienten auf einen Nenner zu bringen? Muss die weiße Daktaria sich in allem anpassen, um des lieben Friedens willen? Zuweilen ist die Antwort darauf nicht schnell zu bekommen.
Zur Zeit sind allerlei Visitengänger unterwegs: Zehn Medizin- und CO-Studenten, ein einheimischer Arzt, zwei Orthopädietechniker, zwei COs und als einzige Frau eine deutsche Ärztin schlängeln sich durch die Bettenreihen. Bett 61: eine Zwölfjährige mit der Arbeitsdiagnose einer fieberhaften Gelenkentzüdung ist in schlechtem Allgemeinzustand – Hb bei 5,3, hohes Fieber, Schmerzen in der linken Hüfte und im Unterbauch. Gestern hatte ich die Antibiotika nach einer Woche erfolgloser Therapie umgesetzt, die Schmerztherapie erweitert und die Patientin der Gynäkologin vorgestellt. Zusammen mit dieser wurde im Ultraschall ein Abszess im kleinen Becken entdeckt. Die Gynäkologin hatte dringend dazu geraten, zunächst weiter konservativ zu behandeln. Ich hatte dies in der Patientenakte notiert. Heute nun sammeln sich die COs ums Bett der Patientin. Die Rangordnung: oben der Chirurg (einheimisch), dann die beiden dienstältesten COs und die Ärztin. Die COs besichtigen die Patientin. Schmerzen? Abszess. Abszess? Punktion! Eine Spritze wird geholt und in den Unterbauch gestochen. Die Patientin schreit vor Schmerzen. Es wird eine Spur Eiter aspiriert neben Blut. Eiter? Inzision und Drainage. Die Patientin wird auf die OP-Liste gesetzt.
Eine andere Patientin hat eine schwere Verletzung des Mittelfingers, die Knochen liegen bloß. Der Chirurg versucht, den Finger durchzubewegen. Die Patientin, eine gestandene ältere Frau, weint vor Schmerzen und sitzt zitternd auf ihrer Matte. Völlig unbeeindruckt holt der Kollege noch den Orthopädietechniker an seine Seite und demonstriert zum zweiten Mal, wie durchbewegt werden soll. Dann darf dieser versuchen, ob er es kann. Genau so ergeht es all den Kindern, bei denen die Verbände gewechselt, ungerührt auf große Wundflächen trockene Kompressen aufgelegt und nach Antrocknen ohne Befeuchten wieder abgenommen werden, Wunden mit Desinfektionsmittel abgerieben werden, unter Schmerzensschreien und Tränen. Man macht seine Arbeit und nimmt nicht zur Kenntnis, dass man vermeidbare Schmerzen zufügt. Man fährt fort im Programm und sagt vielleicht noch: der Patient ist extrem ängstlich, ja, Frauen, ja, dieses Kind ist sehr eigensinnig, es will nicht verbunden werden. Vielleicht schlägt man das Kind noch, um es zur Ruhe zu bringen.
Woher diese Haltung? Tradition? Schreckliche Erfahrungen in Kriegszeiten? Verbiegungen? Eigene Schmerzen, die keiner gelindert oder wahrgenommen hat? Das Tag für Tag zu sehen und zu hören, ist schwer auszuhalten. Man kann Abstand nehmen, tief durchatmen, in einen anderen Raum gehen, sich auf einen anderen Patienten konzentrieren, auf eine nächste Visite hoffen, wenn die weiße Ärztin wieder sagen kann, halt, nicht ohne Schmerzmittel, denn es darf den ‚big men‘ nicht widersprochen werden, dem einheimischen Chirurg, den COs. Die Hierarchie ist fest gefügt. Wer lange da und männlich ist, gibt den Ton an. Eine Ärztin, die erst ein paar Monate da und zudem weiß ist, hat da nichts zu sagen. Passen sie sich an! Fügen sie sich in die örtlichen Gegebenheiten ein! Akzeptieren sie die emotionalen Defizite, die Unsensibilität und Grobheit der Kollegen und laut Vertrag untergebenen Mitarbeiter.
Schweigen sie zu groben Fehlern. Sagen sie nie, „ich habe das so gelernt“, man will nicht wissen, wie es bei Ihnen zuhause zugeht. Sagen sie nie, „ich habe das im Buch gelesen“, ihr Buch interessiert hier nicht. Auch ist es hier nicht erhältlich. Die alten Bücher, die es hier gibt, haben das Sagen. Dialog? Unmöglich – oder doch ausgesprochen – schwierig da, wo man sich nicht unter gleichen Voraussetzungen begegnet, sondern der eine aus der üppigen, der andere aus der ärmeren Welt kommt. Wer mit wenig zurechtkommen musste und muss und werden muss, hat es irgendwann satt, von den Kurzbesuchern zu hören, was man anders machen soll. Sie gehen wieder und man bleibt mit dem Bisschen zurück, das man hat.
Aber! - Ärztliche Anmerkungen
Als Grundsätze ärztlichen Handelns ließen sich aufzählen:
Heilen, wo möglich, und gleichzeitig wissen, es gibt Grenzen des Machbaren und ethisch Vertretbaren.
Das Leiden des Kranken erleichtern, auch da, wo Heilung nicht möglich ist. Trösten – immer!
Diese Forderungen sind als international anzusehen und in jedem Kontext umsetzbar. Und eigentlich sind sie Recht des Kranken. Der Patient hat ein Recht darauf, die in seinem Kontext mögliche Behandlung auch zu erhalten und wo diese begrenzt ist, zumindest Linderung zu erfahren.
Schau den Balken in deinem eigenen Auge an, bevor du dich über die Splitter anderer aufregst, könnte man anmerken, und wirklich ist es unerquicklich, hier nur die Mängel aufzuzählen, wo es auch so viel Gutes gibt. Man könnte daran erinnern, dass unsere Brüder und Schwestern auf diesem Kontinent, in diesem Land, an diesem Ort eben noch nicht so weit sind, und man ihren Stand der Entwicklung zu achten hat, dass man schweigen soll als diejenige, die von außen kommt. Dass die Menschen hier eben „anders ticken“.
Aber (!): Ticken die Patienten wirklich so viel anders? Nur, weil sie tapferer sind, müssen sie deshalb mehr Schmerzen aushalten? Schlechter behandelt werden, weil zu spät oder falsch behandelt? Wenn ich täglich in mir diesen Zwiespalt spüre, so frage ich mich nach zwei, drei Monaten: Kann es sein, dass ein bisschen mehr Schmerzen auch nicht den Patient umbringen, sondern von mehr Mut sprechen? Dass wir einfach verweichlicht sind mit unseren internationalen Leitlinien? Der dekadente Westen? Und denke zugleich: Wäre ich selbst die Patientin, würde ich mehr Schmerzen ertragen wollen als nötig, wo doch die Mittel und Möglichkeiten vorhanden sind, aber nicht genutzt werden? Wollte ich einen Bauch voller Verwachsungen riskieren, nur weil der Kollege sich überlastet fühlt und deshalb mit dem Operieren noch warten will? Wollte ich schief zusammenheilende Knochenbrüche akzeptieren, nur weil der orthopädische Techniker zu stolz ist, sich von der ärztlichen Kollegin sagen zu lassen, dass es in diesem Fall eine und welche Gipsschiene braucht und nicht ausreicht, den Arm an einer Schlaufe ans Bett zu hängen?
Und ich weiß: Ich würde die „schlechtere“ Alternative nicht akzeptieren wollen, beträfe sie mich selbst. Und bin mir sicher, würden die Patienten gefragt, zwischen den genannten Optionen zu wählen, sie würden für sich und ihre Kinder genauso entscheiden.
Wie viele Beine hat ein Hund, wenn man den Schwanz Bein nennt? Immer noch vier. Ein Schwanz wird nicht zum Bein, nur, weil man ihn so nennt.
Bildquelle (Außenseite): OakleyOriginals, flickr