In einem Teil der Welt, in dem jeder Gastarzt mit Kompetenz kostbar ist, kann es zuweilen ziemlich im Getriebe knirschen: Hin und wieder zieht ein Kollege eher sein Programm durch als darauf zu achten, was vor Ort eigentlich gewünscht, gefragt und nötig ist...
Menschen von Bedeutung sind auch in ihrer Abwesenheit auf die eine oder andere Art anwesend. So auch „der Capitaine“, ein älterer chirurgischer Kollege aus Europa, der einmal im Jahr für ein paar Wochen kommt. Immer wieder wird auf ihn hingewiesen, ratlos vor Symptomen oder Verletzungen stehende Kollegen freuen sich, dass der Capitaine das Problem lösen werde, wenn er erst wieder da ist. Patienten werden einbestellt zu Terminen, wo er beraten kann. Bei Streit unter Mitarbeitern wird gehofft, der Capitaine werde alles organisieren. Der Capitaine überweise auch nicht gern, sagt man mir, er mache am liebsten alles selbst. Er sammle die Patienten, sodass die Station mit 130 Patienten aus allen Nähten platze. Andere sagen, er schicke alle fort, die keine Notfälle seien, um Platz für die Bearbeitung seiner „orthopädischen Fälle“ zu haben. Was werde ich dann arbeiten, frage ich mich, aber da ist schon die Antwort: der Capitaine wolle alle um sich herum haben, einer müsse ein Bein halten, ein anderer etwas holen, und der Anästhesiepfleger dürfe auf keinen Fall seinen Tisch verlassen.
Auch manche Arbeitstechniken werden auf den Capitaine zurückgeführt. Erklärte mir doch kürzlich ein Kollege, man müsse den Extensionsdraht im Tibiaplateau von innen nach außen einbohren. Auf den berechtigten Einwand, dass außen die Nerven verlaufen, wurde mir erklärt, ja, der Capitaine klopfe deshalb auch die letzte Strecke mit dem Hammer ein. Mein Vorschlag, mit einem Bohrer von außen die ganze Strecke zurückzulegen und dann auch keinen Hammer zu benutzen, wurde konsterniert zurückgewiesen, der Capitaine mache das immer so. Auch werde der Capitaine mit Neuen (wie ich eine sei) immer erstmal bei Null anfangen. Was das wohl heißt?
Mit zunehmender Informationsfülle wird mir diese allgegenwärtige, wie eine Wolke über uns schwebende patriarchalische Übermacht immer unheimlicher. Eigentlich mag ich meine Selbständigkeit, die Freiheit, auch mal selbst was zu organisieren, die Möglichkeit, die Arbeit aufzuteilen und das, was ich (noch vor nicht langer Zeit) gelernt habe, anzuwenden.
Dann ist es soweit. Der Capitaine ist da. Er dreht eine Drittelrunde über die Station, bestimmt, was am Montag alles operiert wird und sagt: jetzt wird hier aufgeräumt! Mit seinem Eintreffen gerät sogleich die Arbeit ins Stocken, erliegt auch hin und wieder völlig. Auf Station wartet man auf den Capitaine. In der Ambulanz bekommt man gesagt, man solle erst anfangen, wenn der Capitaine da sei, auch wenn er an diesem Abend gar nicht mehr auftaucht und es allerhand Patienten gibt, die auch nicht unbedingt eine Expertenmeinung brauchen. Im OP werden 2 oder 3 Operationen durchgeführt, parallel darf nichts laufen, weil er das nicht haben wolle, sagt der Anästhesiepfleger, und es herrschen strenge Regeln: Operateur ist immer der afrikanische Kollege, der froh darüber ist, von einem Lehrer zu profitieren, der sich Zeit für ihn nimmt (obwohl dieser ihn ein bisschen wie einen Schuljungen behandelt). Die restlichen OPs, selbst wenn es nur Hernien oder Wundversorgungen sind, werden geschoben, was dazu führt, dass die Zahl der Patienten beständig wächst, was wiederum die Pflegenden auf Station wenig freut. Am schwersten fällt mir, die Arbeit zu sehen und nichts tun zu sollen als am Rande des Tisches zu stehen und maximal einen Haken zu halten. Diese Autoritätsgläubigkeit auf Kosten aller vernünftigen Planung geht mir gehörig gegen den Strich. Auch die Lautstärke, in der diese Autorität zuweilen vom Capitaine eingefordert wird. Zumal ja genug Arbeit da ist, die aber nicht nebenher getan werden darf.
Und schließlich erwischt er mich: ein Draht für eine Tibiakopfextension muss geschossen werden. Ich hatte gehofft, er wäre beschäftigt, aber sie haben es ihm verraten: die weiße Frau macht das andersherum und behauptet auch noch, so sei es richtig. Ich desinfiziere, da kommt er, hat schon vorher meinen Arbeitstisch umkreist, hebt gebieterisch die Hand: nein! So mache man das nicht. Keine Widerrede, wenn er sagt, so rum, dann geht nur so rum, und Generationen von afrikanischen Ärzten hat er gelehrt, die jetzt den gut ausgebildeten Gastärzten klarmachen, nein, wie ihr das machen wollt, kann es nicht richtig sein, weil ja der Capitaine ... Es tut mir leid, sage ich, in allen Büchern steht es so, auch im Internet in den WHO-Richtlinien, wie ich es gelernt habe, und wenn ich mich je vor Gericht verantworten muss, wird man den zitierten Büchern eher glauben als ... einem alten Mann aus Europa, den ich in Afrika getroffen habe, letzteres sage ich nicht, denke es nur, und sage, dann kann ich es nicht machen. Er scheint darauf gewartet zu haben, denn nun kann er zeigen, wie es geht. Nicht mal gerade ist der Draht hinterher. Wie peinlich. Und er merkt es auch nicht, vor lauter Glück über so viel Autorität.
Ja, sagt der junge, einheimische Kollege, er weiß auch, dass einige Techniken, die er gelehrt wird, alt sind, deshalb will er gerade diese Dinge nicht allein angehen, der Capitaine solle operieren. Und, was der Capitaine vielleicht nicht bedenkt: der Kollege möchte gar nicht irgendwelche Uralttechniken lernen, weil der Capitaine sagt, diese seien ja gerade für Afrika noch tauglich, da man ja sowieso hier rückständiger sei. Im Gegenteil: der junge einheimische Kollege hat auch ein gewaltiges Interesse daran, Neues, Aktuelles zu lernen.
Ich gebe zu, hier die Negativschlagzeilen aufgezählt zu haben, an denen ich mich ärgere. Viel Gutes ist dabei unter den Tisch gefallen: der seit vielen Jahren regelmäßige Einsatz eines alten Kollegen, der ausbilden will und dies auch tut. Trotzdem bin ich froh, dass die Zeit seines Einsatzes auf ein paar Wochen begrenzt ist. Oder sollten wir einfach nur froh sein, überhaupt einen Fachmann da zu haben?
Bildquelle (Außenseite): vasse nicolas,antoine, flickr