Weltweit wird versucht, Antibiotikaresistenzen zu bekämpfen. Um unnötige Verschreibungen zu vermeiden, geht man in anderen Ländern deutlich progressiver vor als hierzulande. So erhielten australische Hausärzte maßregelnde Briefe vom Gesundheitsministerium. Ob das funktioniert?
Manche Hausärzte verordnen voreiliger als andere, sagt Dr. Carolin Coch, Fachärztin für Innere Medizin in Bonn. „Das liegt zum Teil bestimmt auch am Sicherheitsdenken von Arzt und Patient sowie der Erwartungshaltung der Patienten,“ erklärt sie. Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein: „Das Problem sind oft die Erwartungshaltungen der Patienten an den Arzt und die Erforderlichkeit einer schnellen Abfertigung bei hohem Patientenaufkommen,“ ist auch Dr. Silja Kaweh sicher. Sie ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis in Düsseldorf. Dort hat sie ähnliche Erfahrungen wie Dr. Coch gemacht: „Viele Ärzte sehen sich oftmals unter Druck gesetzt, bei protrahiertem Krankheitsverlauf oder Ungeduld des Patienten ein Antibiotikum zu verschreiben.“ Sie beobachte außerdem ein voreiliges Handeln mancher Ärzte, die durch Antibiotikaverschreibungen versuchen, zu „verhindern, dass Patienten nochmal wieder kommen bzw. kommen müssen“. Die Befürchtung, viele Patienten würden erfahrungsgemäß einen zweiten oder dritten Termin zur Verlaufsbeobachtung nicht wahrnehmen, könnte ihrer Ansicht nach ein weiterer Grund für vorschnelle Verschreibungen sein. Was Lösungsansätze angeht, ist man in anderen Ländern weit experimentierfreudiger als hierzulande. Zwei außergewöhnliche Modelle sind bereits im Einsatz. Sie haben zum Ziel, dass Ärzte weniger Rezepte für Antibiotika ausstellen. Die Strategien sind sehr unterschiedlich: In Australien werden Vielverschreiber auf ihr Verhalten hingewiesen, in Großbritannien werden Wenigverordner belohnt.
Variante 3: Peer Comparison mit Grafik Allein bei akuten Atemwegsinfektionen werden in Australien jährlich bis zu neun Mal mehr Antibiotika verschrieben, als in den Leitlinien empfohlen wird, so das Ergebnis einer Studie aus dem Vorjahr. Die australische Regierung entschied sich im letzten Jahr deshalb, zu handeln. Ein neuer Ansatz wurde gewählt: der „behavioural economics approach“, im Deutschen als Verhaltensökonomik bezeichnet. Man machte sich also das Wissen darüber zunutze, wie Menschen sich in wirtschaftlichen Situationen verhalten. Dabei stand vor allem das „Peer-Comparison-Prinzip“ im Vordergrund: Jede individuelle Person wird dazu angehalten, ihr eigenes Handeln und das der Masse miteinander zu vergleichen. Ein Beispiel aus der Praxis ist etwa ein Informationsschild in den Badezimmern von Hotels, auf dem so etwas steht wie „75 Prozent aller Gäste verwenden ihr Handtuch öfter als einmal.“ Der Vergleich mit den anderen soll Hotelgäste bei ihrer Entscheidung beeinflussen, um Ressourcen zu sparen. Daraus entstand folgende ungewöhnliche Maßname: Jene Hausärzte, bei denen die Verschreibungsraten besonders hoch waren (die oberen 30 Prozent), erhielten einen Brief, in dem sie auf ihr Verhalten aufmerksam gemacht wurden. Sie wurden in fünf verschiedene Gruppen aufgeteilt: Es wurden vier unterschiedlich formulierte Schreiben verschickt, um zu sehen, welches am besten funktioniert. Die fünfte Gruppe diente als Kontrollgruppe und erhielt keinen Brief. Variante 1: „Education-only Letter“ mit Zusatzmaterial Ein Informationsschreiben inklusive zwei farbenfroh gestalteter Poster, die Ärzte und Patienten über Antibiotikaresistenzen aufklären. Variante 2: „Education with peer comparison letter“ mit Zusatzmaterial Ein Mix aus Informationsschreiben und dem Peer-Comparison-Prinzip. Das Schreiben beginnt mit dem Schlüsselsatz „Sie verschreiben mehr Antibiotika als x Prozent der Verschreibenden in Ihrer Region.“ Im Anschluss wird über Antibiotikaresistenzen informiert, außerdem liegen auch hier Poster bei. Sticker, Var. 4 Variante 3: „Peer Comparison Letter“ mit Grafik Das Schreiben ist sehr knapp formuliert und enthält im Wesentlichen nur den erwähnten Schlüsselsatz. Dieser wird durch eine Grafik noch zusätzlich verdeutlicht. Variante 4: „Peer Comparison Letter“ mit „Action Plan“ und „Sticker“ Hier bekommt der Arzt Infoblätter, die er Patienten mitgeben kann. Sie klären darüber auf, wann die Einnahme von Antibiotika nötig ist und wann nicht. Dazu gibt es ein Sticker, auf dem der Arzt vermerken kann, wieviele Tage der Patient abwarten soll, bis er zu Antibiotika greift. Im besten Fall ist die Einnahme zu diesem Zeitpunkt nicht mehr notwendig. Laut Regierungsbericht war das Projekt erfolgreich. Schon in den nächsten sechs Folgemonaten gingen die Antibiotika-Verordnungen deutlich zurück: Verschreibungsverhalten in den Folgemonaten nach dem Versuch Vergleicht man die unterschiedlichen Briefmodelle, wird deutlich, dass Variante zwei bis vier ähnlich erfolgreich waren: Das Informationsschreiben mit Peer Comparison bewirkte einen Rückgang von 9,3 Prozent bei den Verschreibungen. Beim Peer Comparison, der mit Aktionsplan und Sticker kombiniert war, konnte ein Minus von 10,4 Prozent erreicht werden. Der größte Erfolg gelang mit Variante 3. Verglichen mit diesen Zahlen wirkt ein Rückgang von 3,2 Prozent an Verschreibungen bei den Ärzten die lediglich ein Informationsschreiben erhalten hatten, eher bescheiden. „Hätten wir das erfolgreichste Briefmodell an alle Gruppen (inklusive der Kontrollgruppe) geschickt, hätten wir geschätzt 208.510 Verschreibungen verhindern können“, heißt es in dem Bericht.
In Großbritannien versucht man auf eine andere Weise, das Problem anzugehen: finanzielle Belohnung für jene, die es richtig machen. Laut Bericht des Wissenschaftsmagzins NewScientist integrierte die britische Regierung im Jahr 2015 das Thema Antibiotika im sogenannten „Quality Premium“. Das ist ein Bonus von 5 Pound (5,61 €) pro Patient, den Hausärzte erhalten, wenn sie innerhalb eines Jahres eine Reihe von Maßnahmen verbessern. Dazu gehört nun auch, dass Hausärzte die Zahl verschriebener Antibiotika um mindestens 1 Prozent reduzieren mussten. Dieser Punkt entspricht 10 Prozent des Quality Premiums. Um den Bonus zu bekommen, muss man viele weitere Bedingungen erfüllen, zum Beispiel dürfen nie mehr als 18 Wochen vergehen zwischen dem Zeitpunkt einer ärztlichen Überweisung und der tatsächlichen Behandlung. Ein weiterer Punkt ist etwa, dass die behinderungsbereinigten Lebensjahre (DALY) reduziert werden müssen, auch er macht 10 % des Bonus aus. Eine kürzlich veröffentlichte Studie legt nahe, dass das Belohnungssystem funktioniert hat: Allgemeinärzte verschrieben sogar um 3 Prozent weniger Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegserkrankungen, nachdem die Initiative eingeführt worden war. Um noch größere Erfolge zu erzielen, haben die NHS ihre Guidelines kürzlich überarbeitet und machen speziell auf unnötige Antibiotikaverschreibungen bei Harninfektionen aufmerksam.
„Ich persönlich könnte am meisten mit dem Australischen Modell anfangen,“ erklärt Coch – die Fachärztin für Innere Medizin aus Bonn. Gut daran sei der Informationscharakter, schließlich habe man als Arzt immer noch die freie Wahl, Antibiotika zu verschreiben oder nicht, denke aber vermutlich vermehrt darüber nach. Beim britischen System sieht sie die Gefahr, dass es als „Gehaltseinbuße“ verstanden werden könnte. Das Wohl der Patienten könnte dadurch in den Hintergrund rücken. „Das direkte Konfrontieren der Ärzte finde ich besser, es spricht das Gewissen an und ist informativer,“ findet auch Dr. Kaweh, die Allgemeinmedizinerin aus Düsseldorf. Sie hält finanzielle Anreize in der Medizin ebenfalls für fehl am Platz. „Das birgt das Risiko, Antibiotika trotz möglicherweise bestehender Indikation dem Patienten vorzuenthalten – aus den falschen Gründen. Es wird aber Kollegen geben, die monetäre Anreize zu schätzen wissen,“ so ihre Argumentation.
In der Humanmedizin kommen ca. 700-800 Tonnen Antibiotika pro Jahr zum Einsatz, steht im GERMAP von 2015. Der ambulante Bereich stellt 85 % des Gesamtverbrauchs dar. Im Jahr 2016 gaben die Apotheken vergleichbar viel Antibiotika ab wie in den Vorjahren: 12,6 definierte Tagesdosen pro 1000 Versicherte und Tag (dose per 1000 inhabitants per day, DID). „Das entspricht etwa dem Wert der Vorjahre: 2012 wurden rund 13,1 und 2014 rund 12,8 DID abgegeben. Das ergab eine Auswertung des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts e. V. (DAPI),“ berichtete die ABDA im Vorjahr. Überraschend sind die nicht nachvollziehbaren regionalen Unterschiede. Wie häufig Hausärzte Antibiotika verordnen, hängt anscheinend auch stark davon ab, in welchem Bundesland ihre Praxis ist, wie aus der Grafik (rechts) eines Newsletters des Verordnungsatlas von 2016 ersichtlich ist. So ist die Verschreibungsrate in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland deutlich höher als in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen. Um die Gründe dieser Unterschiede nachvollziehen zu können, bedarf es eines genaueren Blicks. In der Tiermedizin hat sich der Antibiotikaverbrauch seit 2011 mehr als halbiert: 2011 waren es noch 1.706 Tonnen pro Jahr, 2016 nur noch 742 Tonnen, der Verbrauch ist also etwa so hoch wie in der Humanmedizin. In der Veterinärmedizin klappt es mit dem Einsparen von Antibiotika also ganz gut, während es in der Humanmedizin nur schleppend voran geht. Muss der Patient also erst davon überzeugt werden, dass es in vielen Fällen besser ist, auf die Einnahme von Antibiotika zu verzichen?
Ja, findet Dr. Bernhard Heyden-Rynsch. „Besonders bei Harnwegsinfekten sind resistente Erreger ein gravierendes Problem. Um Antibiotika einzusparen, sollte auch durch die Medien das Bewusstsein in der Bevölkerung für das Resistenzproblem geschärft werden, damit Patienten nicht auf einen Antibiotikaeinsatz drängen,“ betont der Facharzt für Allgemeinmedizin in Frellstedt. Auch Kaweh würde vor allem auf die Aufklärung von Patienten setzen und schlägt Info-Flyer in mehreren Sprachen vor. Zudem hat Heyden-Rynsch zunehmend beobachtet, dass manche Patienten nicht nur hartnäckig sondern auch nicht ganz ehrlich wären, wenn es um das Thema Antibiotika geht. „Wenn diese ihre Beschwerden vehement beschreiben und auch die Krankheitsdauer anders darstellen, dann wird man als Arzt eher dazu verleitet, ein Antibiotikum aufzuschreiben.“ Was in solchen Situationen hilft: Mit den Patienten reden. „Ich gebe Patienten manchmal vor einem langen Wochenende ein Rezept für ein Antiobiotikum mit, kläre sie aber über die Nachteile auf und bitte sie, das Rezept nur bei einer Verschlechterung einzunehmen. Die meisten aufgeklärten Patienten berichten dann im Nachhinein oft stolz, dass sie ohne Antibiotikum ausgekommen sind,“ erzählt Kaweh. Ähnlich handhabt es Heyden-Rynsch: „Ich spreche in solchen Fällen immer wieder mit den Patienten, und die meisten lassen sich auch überzeugen, wenn ein Antibiotikum aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist. Aber es gibt auch andere, die auf eine Verordnung drängen, wenn z. B. der Druck vorhanden ist, schnell wieder am Arbeitsplatz zu erscheinen. Hier wäre eine breitere Aufklärung auf jeden Fall hilfreich, denn die zur Verfügung stehende Zeit im Alltag ist ein Problem und verführt eventuell dazu, ein Antibiotikum aufzuschreiben, um nicht länger diskutieren zu müssen,“ erklärt Heyden-Rynsch die aktuelle Situation. Coch wünscht sich eine umfassendere finanzielle Unterstützung im Praxisalltag. „Ich persönlich hätte gern die Möglichkeit, budgetneutral eine Laborkontrolle machen zu können, um zu entscheiden, ob wirklich eine Antibiotikatherapie nötig ist,“ sagt sie. Immerhin: Kaweh beobachtet sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten eine positive Wende im Umgang mit Antibiotika. „Ich habe den Einduck, dass die Verschreibungen zurückgehen. Ich denke, dass die jüngere Ärztegeneration etwas bewusster mit dem Thema umgeht. Mir fällt auf, dass vor allem die älteren Ärzte schneller zu Antibiotika greifen. Es gibt aber zumindest, soweit ich das für unsere Praxis bzw. Stadt beurteilen kann, auch immer mehr informierte Patienten, die auf Antibiotika verzichten wollen,“ erzählt die 45-jährige Allgemeinmedizinerin.
Auch hierzulande versucht man, den Verbrauch von Antibiotika zu senken: Im Mai 2015 wurde die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie „DART 2020“ vom Bundeskabinett verabschiedet. Plakat der Kampagne „Antibiotika gezielt einsetzen“ Es handelt sich um ein Bündel von Maßnahmen, die notwendig sind, um Antibiotika-Resistenzen zu reduzieren. Die Liste der vereinbarten Ziele kann man auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums im Detail nachlesen. Darin wird vor allem betont, dass erst noch weitere Daten benötigt werden, um das Problem besser verstehen zu können. Ein Beispiel für Aktionen im kleineren Stil ist die Hamburger Öffentlichkeitskampagne „Antibiotika gezielt einsetzen“, die sich sowohl an Patienten als auch an Ärzte richtet. Plakate, die in U-Bahnstationen ausgehängt werden, Infoblätter in Apotheken, Abreißblöcke und mehrsprachige Patientenflyer in Wartezimmern von Arztpraxen – die Liste an bestehenden sowie verabredeten weiteren Maßnahmen erstreckt sich über sechs Seiten. Der Wille ist also da. Aber reichen Informationen und Weiterbildungen aus? Der nächste Antibiotika-Report wird zeigen, ob Maßnahmen wie diese maßgeblich dazu beitragen können, Antibiotikaresistenzen einzudämmen. Allerdings scheinen auch offensivere Maßnahmen, wie sie in Australien und Großbritannien zum Einsatz kommen, vielversprechend zu sein und sollten zumindest auch als mögliche Optionen für Deutschland diskutiert werden.