Plötzliche Essattacken, ohne danach zu erbrechen, sind typische Merkmale von Binge-Eatern. Eine neurologische Untersuchung zeigte nun: Betroffene haben auch in alltäglichen Situationen Probleme. Das Treffen erfolgreicher Entscheidungen fällt schwer. Schlechte Optionen werden präferiert.
Alltäglich sehen wir uns mit zahlreichen unerwarteten Geschehnissen konfrontiert, in denen wir uns flexibel entscheiden müssen. In der Regel treffen wir schnell eine Wahl und meistern erfolgreich solche Situationen. Geraten wir in Zukunft noch mal in eine ähnliche Lage, greifen wir auf unsere bereits erprobte, erfolgreiche Lösung zurück. Wie ist das jedoch bei Personen, die unter der sogenannten Binge-Eating-Essstörung und damit unter unkontrollierten Essattacken leiden? Im Gegensatz zur Bulimie ergreifen die Betroffenen keine Gegenmaßnahmen und versuchen nicht, den Anfall „ungeschehen“ zu machen, indem sie sich erbrechen, Abführmittel zu sich nehmen oder extreme Diäten halten.
Die Patienten leiden nicht nur an Schuld- und Schamgefühlen, ihnen drohen auch Adipositas, Diabetes und andere gesundheitliche Gefahren. Obwohl sie sich dieser psychischen und physischen Folgen durchaus bewusst sind, werden sie von dem Gefühl heimgesucht, nicht mit dem Essen aufhören zu können. Sie treffen damit im Zusammenhang mit Essen für sich schlechte Entscheidungen und schaffen es im Gegensatz zu anderen Menschen nicht, ihr Verhalten flexibel anzupassen. Doch wie verhält es sich mit Entscheidungssituationen, die unabhängig von der Nahrungsaufnahme sind? Liegt das Problem vielleicht tiefer und den Patienten gelingt es generell nicht, eine einmal getroffene Wahl je nach Bedingungen zu überdenken? Bleiben sie möglicherweise prinzipiell bei ihrer Entscheidung, selbst wenn diese für sie Nachteile bedeuten könnte? Diesen grundlegenden Fragen des Entscheidungsverhaltens ging nun eine Studie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig nach, um so die Mechanismen hinter dieser Erkrankung zu verstehen. Dazu nutzten die Wissenschaftler ein scheinbar einfaches Kartenspiel: Den Probanden wurden jeweils zwei Karten vorgelegt, von denen eine deutlich häufiger gewinnt als die andere. Die Teilnehmer hatten nun die Aufgabe, herauszufinden, welche Karte die bessere Wahl ist. Dabei veränderte sich im Laufe des Spiels nach einem einfachen Schema, welche der beiden Karten gerade die Gewinnerkarte ist. Die Probanden mussten daher im passenden Moment ihre bis dahin getroffene „Standardentscheidung“ revidieren und sich für die jeweils andere Karte entscheiden.
„Den meisten Menschen gelingt diese flexible Verhaltensanpassung gut, Binge-Eating-Patienten haben hier jedoch Schwierigkeiten“, erklärt Andrea Reiter, Erstautorin der dazugehörigen Studie. „Stattdessen testen sie immer wieder die offensichtlich schlechtere Option aus, obwohl sie es bereits anders gelernt haben.“ Die Forscher schließen daraus, dass die Betroffenen generell Schwierigkeiten dabei haben, erfolgreiche Entscheidungen zu treffen und gelernte Erfahrungen angemessen nutzen zu können. Entsprechend würden sie auch im Falle des verspäteten Zugs oder des vergessenen Schlüssels eine aus früheren Erfahrungen als schlecht befundene Variante erneut ausprobieren. Das spiegelt sich auch im Gehirn der Studienteilnehmer wieder: „Bei gesunden Menschen zeichnet sich die komplexe, gelernte Struktur hinter der Aufgabe – die eine Karte ist schlecht, wenn die andere gut ist - auch in der Hirnaktivität ab“, so Studienleiter Lorenz Deserno. „Bei Binge-Eating-Patienten ist das jedoch nicht der Fall. Bei ihnen ist der mediale präfrontale Cortex weniger aktiv, also das wesentliche Hirnareal um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen.“
Und nicht nur das: Auch das Warn- oder Fehlersystem scheint bei den Betroffenen nicht ausreichend zu funktionieren. Im Gegensatz zu gesunden Menschen sind bei ihnen nach einer unpassenden Entscheidung weder der laterale präfrontale Cortex, noch die Insula entsprechend aktiviert – zwei Hirnregionen, die gesunden Menschen dabei helfen, zur besseren Option zurückzukehren. „Natürlich wäre es für uns Menschen das Einfachste, wenn unsere Umgebung immer konstant bleiben würde. Dann könnten wir stets die gleichen gelernten Verhaltensweisen anwenden und müssten uns nicht ständig anpassen“, erklärt Deserno. „Da sich unsere Umwelt aber jederzeit verändert, müssen wir zielgerichtet unsere Handlungsoptionen neu überdenken und uns dabei auch auf positive Erfahrungen berufen können. Binge-Eating-Patienten fällt das deutlich schwerer." Originalpublikation: Impaired Flexible Reward-Based Decision-Making in Binge Eating Disorder: Evidence from Computational Modeling and Functional Neuroimaging Andrea M F Reiter et al.; Neuropsychopharmacology, doi: 10.1038/npp.2016.95; 2016