85 Prozent der Rückenschmerzen gelten als medizinisch unkompliziert und bildgebende Diagnostiken sind deshalb nur selten vonnöten. Dennoch greifen viele Ärzte darauf zurück und veranlassen pro Jahr sechs Millionen Bildaufnahmen. Patienten werden dadurch eher verunsichert.
Jeder fünfte gesetzlich Versicherte geht mindestens einmal im Jahr wegen Rückenschmerzen zum Arzt – 27 % davon suchen sogar vier Mal oder öfter einen Arzt auf. Von den jährlich mehr als 38 Millionen rückenschmerzbedingten Besuchen bei Haus- oder Fachärzten und den dabei veranlassten sechs Millionen Bildaufnahmen wären viele vermeidbar. Zu diesem Schluss kommt die Studie „Faktencheck Rücken“ der Bertelsmann Stiftung. Wenn es um Rückenschmerzen geht, ist jeder Zweite (rund 52 %) überzeugt davon, dass man immer einen Arzt aufsuchen muss. 60 % der Bevölkerung erwarten außerdem schnellstens eine bildgebende Untersuchung. Und mehr als zwei von drei Personen, rund 69 %, sind der Meinung, dass der Arzt durch Röntgen-, Computertomografie- (CT) und Magnetresonanztomographie-Aufnahmen (MRT) die genaue Ursache des Schmerzes findet.
Ein Trugschluss: Ärzte können gerade einmal bei höchstens 15 % der Betroffenen eine spezifische Ursache für den Schmerz feststellen. Die meisten Bilder verbessern oft also weder Diagnose noch Behandlung von Rückenschmerzen. Die falschen Erwartungen der Patienten rücken Ärzte häufig nicht zurecht. Dadurch kommt es neben übermäßig vielen Arztbesuchen auch zu unnötig vielen Bildaufnahmen. Allein 2015 haben Ärzte über sechs Millionen Röntgen-, CT- und MRT-Aufnahmen vom Rücken veranlasst. „Oft werden die Befunde der Bildgebung überbewertet. Dies führt zu unnötigen weiteren Untersuchungen und Behandlungen, zur Verunsicherung des Patienten und kann sogar zur Chronifizierung der Beschwerden beitragen“, so Prof. Dr. Jean-Francois Chenot von der Universität Greifswald und medizinischer Experte für den Faktencheck. Die bildgebende Diagnostik erfolgt zudem oft vorschnell. Bei 22 % wurde eine Aufnahme vom Rücken bereits im Quartal der Erstdiagnose angeordnet. Bei jedem zweiten Betroffenen wurde ein Bild veranlasst, ohne vorher einen konservativen Therapieversuch, zum Beispiel mit Schmerzmitteln oder Physiotherapie, unternommen zu haben.
Fakt ist: 85 % der akuten Rückenschmerzen gelten als medizinisch unkompliziert und nicht spezifisch. Ärztliche Leitlinien empfehlen bei Rückenschmerzen ohne Hinweise auf gefährliche Verläufe, beispielsweise Wirbelbrüche oder Entzündungen, körperliche Aktivitäten so weit wie möglich beizubehalten, Bettruhe zu vermeiden und keine bildgebende Diagnostik durchzuführen. Ärzte weichen von diesen wissenschaftlichen Empfehlungen jedoch häufig ab. So wird 43 % der Betroffenen Ruhe und Schonung empfohlen. Zudem verstärken Ärzte oft das Krankheitsgefühl der Betroffenen, anstatt sie zu beruhigen. 47 % der Betroffenen wird vermittelt, dass der Rücken „kaputt“ oder „verschlissen“ sei. „Ärzte müssen falsche Kenntnisse und Erwartungen von Patienten korrigieren. Nur so werden sie ihrem eigenen Anspruch als vertrauenswürdige Experten gerecht“, so Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Betroffene mit Rückenschmerzen gehen in Berlin oder Bayern viel häufiger zum Arzt als in Hamburg, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz. Die Zahl der Behandlungsfälle pro 1.000 Versicherten und Jahr variiert auf Bundeslandebene zwischen 370 in Hamburg und 509 in Berlin.
Auf Kreisebene gibt es Unterschiede um mehr als das Doppelte: So betrug die durchschnittliche Anzahl von Behandlungsfällen je 1.000 Versicherten in den Jahren 2009 bis 2015 in den Kreisen Ostprignitz-Ruppin (BB) und Rotenburg/Wümme (NI) nur 306, im Werra-Meißner-Kreis (HE) dagegen 711 und in Dingolfing-Landau (BY) sogar 730 Fälle. Auch Ärzte agieren regional sehr unterschiedlich: Zwischen den Bundesländern variieren die Verordnungen von Röntgen-, CT-, und MRT-Aufnahmen um bis zu 30 Prozent. In manchen Stadt- und Landkreisen werden sogar doppelt so viele Aufnahmen veranlasst wie anderswo. „Die gründliche körperliche Untersuchung und das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient müssen wieder mehr Gewicht erhalten“, fordert Mohn. Dafür bedarf es Korrekturen im ärztlichen Vergütungssystem. So müssen Gespräche im Verhältnis zu technikbasierten Untersuchungen besser bezahlt werden. Internationale Beispiele zeigen des Weiteren, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, unnötige und im Zweifelsfall gesundheitsschädliche Aufnahmen zu reduzieren: In Teilen Kanadas erhalten Ärzte seit 2012 keine Vergütung mehr, wenn sich herausstellt, dass Bildaufnahmen veranlasst wurden, obwohl kein gefährlicher Verlauf der Rückenschmerzen erkennbar war. In den Niederlanden setzt man auf striktere Zugangsbeschränkungen zu Röntgen-, CT- und MRT-Geräten. Originalartikel: Volksleiden Rückenschmerzen: Patienten überschätzen Bildaufnahmen, Ärzte verstärken zu hohe Erwartungen Bertelsmann Stiftung; Pressemitteilung; 2016