Die enorme Technisierung in Arztpraxen und Kliniken fördert die Wahrnehmung der Medizin als Reparaturbetrieb. Die Erwartungen vieler Patienten sind dadurch überzogen und distanziert von der Komplexität des menschlichen Körpers. Darunter leidet der Respekt vor der intellektuellen Leistung des Arztes.
Die siebzehnjährige Jenna erwacht ohne Erinnerung aus dem Koma. Nach einem Autounfall war ein Großteil ihres Körpers unwiederbringlich zerstört. Aus den verbliebenen zehn Prozent ihres Gehirns reproduzierten die Ärzte Jenna. „Zweiunddieselbe – Wie viel von mir bin ich?“, lauten der Titel eines fiktionalen Jugendromans von Mary E. Pearson und die Frage, mit der ihre Protagonistin auf Identitätssuche geht. Die simple Wiederherstellung von zerstörtem Gewebe und verlorener Funktion beim Unfallopfer Jenna – tatsächlich nur eine plakativ überzeichnete literarische Vorlage für die Reflektion der regenerativen Medizin oder im Grunde ein Abbild unserer Einstellung gegenüber der modernen Medizin? Ein Großteil der Bevölkerung in den Industriestaaten ist von seiner Gesundheit verwöhnt. Es herrscht weit verbreitete Ignoranz gegenüber der eigenen körperlichen Verwundbarkeit: Der Sportler joggt trotz Erkältung, nach kurzen Panikwellen anlässlich BSE, EHEC und Ebola kehrt trotz fortwährender Seuchen die öffentliche Lethargie zurück. Die Krone der Schöpfung wähnt sich in Sicherheit, der Körper funktioniere – und wenn er das nicht tut, kommt die Werkstatt, respektive der Arzt, hängt ein Diagnosegerät an und repariert den Schaden umgehend. Erwartungen dieser Fasson müssen Ärzte entgegentreten. Inwiefern diese Sichtweise auf die Medizin und den Mediziner angemessen ist, verdient eine sorgfältige Analyse.
Das beeindruckende Wachstum des medizinischen Werkzeugkastens fördert die Ansicht, dass die Behebung eines körperlichen Problems reine administrative Analyse und Reparatur nach Blaupause sein kann. Ein Standardprozedere in der Orthopädiepraxis einer fränkischen Kleinstadt spiegelt das wider: „Guten Morgen, Sie haben Rückenschmerzen?“ – Einmal nach vorne beugen: „Th12/L1.“ – Abmarsch in die Röntgenabteilung. – Rückweg über die Treppe, trotz sportlicher Verfassung ist das digitale Bild des peinigenden Wirbelsäulenabschnitts selbstverständlich schneller beim Arzt am Behandlungsrechner. – „Keine auffälligen Befunde“ und drei kräftig knacksende Handgriffe eines geübten Chiropraktikers später steht der vormals Bückschmerzgeplagte frisch justiert an der fränkischen Vormittagsluft. Die technische Ausstattung und ihre Integration in Behandlungsprozesse sind derart überwältigend, dass die Leistung des Mediziners scheinbar in den Hintergrund tritt. Werden zusätzlich noch die Hände des Arztes durch Hightech unterstützt oder ersetzt, verstärkt sich die Entkopplung der medizinischen Leistung vom Mediziner in persona. Seit Sommer 2012 arbeitet das Universitätsklinikum Erlangen für minimalinvasive Eingriffe mit dem Operationsroboter „da Vinci“. Der Chirurg bedient während des Eingriffes den Roboter, der dessen Handbewegungen auf das Operationsbesteck an seinen vier Armen überträgt. Wenn das Diagnosegerät also den Fehlercode ausgespuckt hat, ist der nächste hochtechnisierte Helfer nicht weit. Dabei muss es kein imposant großer Roboter sein. Bereits seit Beginn dieses Jahrtausends wird die Kapselendoskopie zur Darmdiagnostik eingesetzt. Dafür schluckt der Patient eine Kamerakapsel mit Digitalkamera und Beleuchtungseinheit, die für die spätere Begutachtung detaillierte Bilder des Verdauungstraktes aufnimmt. Ist es nicht gar erstaunlich, wie es die technische Raffinesse scheinbar vermag, den Funktionsverbund Mensch in seiner Komplexität, wie es bisher nur eine göttliche Schöpfung oder, nach alternativer Weltanschauung, 5 Millionen Jahre darwinistische Evolution hervorzubringen vermochte, zu durchschauen und zu modulieren? Just so, wie es einem automobilen Operationssaal mit dem Geschöpf 150-jähriger Mobilitätsentwicklung geschieht?
Erfolgszüge der unternehmerischen Medizintechnik, Detektoren und Multiplikatoren in den Untersuchungssälen der Kliniken, an den Operationstischen und sogar in unseren Körpern sind bemerkenswert, ohne das Verständnis der zugrundeliegenden Biologie jedoch wertlos. Die Wiederherstellung einer Funktion oder eines gesunden Gesamtorganismus kann nur dann gelingen, wenn seine Prozesse durchdrungen und die Mechanismen der Störung verstanden sind. Rund 30 Millionen EU-Bürger wissen das nur zu gut. Sie irren oft Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr reihum vom Hausarzt zum Facharzt, zum Heilpraktiker und zurück. Sie leiden an einer seltenen Erkrankung und hätten gerne einen vielversprechenden Werkstatttermin. Trotz hervorragender technischer Ausstattung versagen bei ihnen Diagnose- und Behandlungsleitfäden A, B, C und D. In einer Empfehlung des Rates der Europäischen Union vom 8. Juni 2009 (Informationsnummer 2009/C 151/02) wurde deshalb ein Maßnahmenkatalog für eine bessere Versorgung vorgestellt. Die Einrichtung spezialisierter Behandlungszentren ist Teil davon. 25 solcher Zentren listet Research for Rare, eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Dachorganisation der Forschungsverbünde zu unerkannten Erkrankungen, derzeit für die Bundesrepublik. Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Internist am Universitätsklinikum Gießen-Marburg, leitet eines davon. Im Zentrum für unerkannte Krankheiten Marburg behandelt er gemeinsam mit zehn weiteren Spezialisten verschiedener Fachrichtungen Patienten, denen bis dato nicht geholfen werden konnte. Die Wissenschaftssendung Leonardo auf WDR 5 stellte den „Superdiagnostiker“ und seine Arbeit in der Ausgabe vom 22. Oktober 2014 vor. Als „deutschen Dr. House“ würde er in den Medien oft bezeichnet, heißt es in dem Beitrag von Jochen Paulus. „Episoden von Dr. House sind meist gut recherchiert. (…) Die Fälle gibt es tatsächlich in der Weltliteratur“, verleiht Schäfer selbst dem Vergleich Realitätsbezug. Häufig sei „das Kleingedruckte“ eines Krankheitsbildes dramaturgisch aufbereitet. Für seine Patienten diskutiert das Expertenteam in einer wöchentlichen Konferenz ähnliche Details. Gemeinsame Rekapitulation der Befunde, Diskussion weiterer Untersuchungen und möglicher Diagnosen und das Erarbeiten von Empfehlungen für den behandelnden Arzt machen die Arbeit aus. Der Bedarf ist enorm. Einen Einkaufswagen voller Briefe erhalte er innerhalb einer Woche, sagt Schäfer. In seiner Arbeit offenbart sich besonders deutlich, wie im ärztlichen Alltag individuelle Diagnosefindung in akribischer Detektivarbeit ablaufen muss.
Verblieben 477 Millionen EU-Bürger für Schema F. Drei davon sollten sich beispielsweise in einer Regionalbahn als passagere Schicksalsgemeinschaft dreier Damen im Ruhestand zusammengefunden haben. Trotzdem moniert eine der Damen: „Da gibt’s jetzt diese neue Krebsbehandlung. Das ist ja auch gut, aber die sollen mal was gegen Schnupfen machen. Schnupfen, das betrifft doch alle – das gibt’s doch nicht, dass keiner was gegen Schnupfen macht.“ Ersatzteil nicht lieferbar, sozusagen. Die – das sind wohl die forschende Pharmaindustrie und die Virologen an öffentlichen Forschungseinrichtungen. Und die sind durchaus nicht untätig, was die weitverbreiteten kleinen Plagen des Menschen und beispielsweise die Anstrengungen betrifft, dem gemeinen Schnupfen beizukommen. Bereits in den 1960er Jahren unternahmen erste Forschergruppen erfolgreich Immunisierungsversuche gegen virale Infekte, die häufig von Rhinoviren ausgelöst werden. Eine breit wirksame Impfung gegen die mehr als 100 derzeit zirkulierenden Varianten existiert allerdings auch gut fünf Jahrzehnte später noch nicht. Vielmehr stellt sie mittlerweile auch eine Aufgabe für die moderne Genetik dar, wie zwei Virologen aus Atlanta, USA, Christopher Stobart und Martin Moore, in einem Übersichtsartikel im internationalen Fachmagazin Viruses herausgearbeitet haben (Viruses 2014, 6(7), 2531-50). Die neuen Methoden könnten den Weg zu einer kommerziell erhältlichen Schnupfen-Impfung bahnen, schreiben sie. Noch immer fehlt allerdings die umfassende Kenntnis der kleinen Feinde und damit der passende Angriffspunkt. Ohne zugrundeliegendes Wissen sind keine Diagnose und keine Therapie möglich. Wir haben die Physiologie des Menschen noch lange nicht ausreichend verstanden, um in unfehlbarer und automatisierter Weise Fehlfunktionen zu korrigieren.
Die Diskrepanz zwischen Patientenwahrnehmung und medizinischer Realität hat Folgen für das Verhältnis zwischen Patient und Mediziner. Rechtlich gesehen ist eine ärztliche Behandlung eine Dienstleistung. Sie ist im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB §630a, Untertitel „Behandlungsvertrag“) als spezieller Dienstvertrag mit folgendem Wortlaut festgeschrieben: „Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.“ Der Behandlungsvertrag enthält dagegen keine Festlegungen zum Resultat einer Behandlung. Einen Heilungsanspruch, wie er in vielen Patientenköpfen umherspukt, gibt es rechtlich betrachtet nicht. Die insgeheimen Anforderungen entsprechen wohl am ehesten einem – vom Dienstvertrag verschiedenen – Werksvertrag: „Durch den Werkvertrag wird der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes (…) verpflichtet.“ (BGB §631). Auch wenn das ärztliche Wirken die Linderung von Beschwerden zum Ziel hat, begibt sich der Mediziner durch die Vereinbarung einer Behandlung nicht in eine Erfolgsschuld, sondern lediglich in die Schuld des bestmöglichen Bemühens im Sinne des Dienstvertrages. Sehen sich auch Ärzte als Dienstleister? Prof. Tino Münster, geschäftsleitender Oberarzt in der Anästhesiologischen Klinik des Universitätsklinikums Erlangen, formuliert es etwas anders: „Als Arzt bin ich ein Diener des Menschen“, sagt er. Mit der Bezeichnung des Dienstleisters tut er sich schwer. „Der Beruf des Arztes ist einer der wenigen, die eine Berufung sind“, betont er die Sonderstellung seiner Berufsgruppe. „Damit bin ich ein Berater für die Patienten.“ Entsprechend dieses Selbstverständnisses als beratender Begleiter ist rechtlich gesehen klar: Die Behandlung und deren Organisation sind im BGB reglementiert – nicht das Ergebnis. Das Betreten einer ärztlichen Institution mündet nicht in einem Reparatur- sondern in einem Handlungsauftrag, einem Auftrag zur fachlichen Begleitung.
Trotzdem sind die Erwartungen vieler Patienten an ihre Ärzte irrational und distanziert von der Komplexität des menschlichen Körpers. Die Fortschritte in der Medizintechnik fördern diese Ansicht. Die technischen Möglichkeiten für Diagnose und Behandlung sind bemerkenswert, das Verständnis der Biologie, auf der die Medizintechnik operiert, jedoch die Voraussetzung für deren Erfolg. In weiten Teilen dürfen wir uns tatsächlich auf die Technik stützen, um danach mit wiederhergestelltem Wohlbefinden oder zumindest einer Diagnose, die das Ebengleiche prognostizieren lässt, wieder herauszuschlüpfen. Meist ist es nicht notwendig, die Mechaniken und Prozesse, die geistige Feinarbeit dahinter zu ergründen. Doch eine Überheblichkeit an Reparaturansprüchen ist durch die fortschrittliche Technisierung der Medizin nicht gerechtfertigt. Automatisiert und selbstverständlich ist die Heilkunst beileibe nicht. Jeder, der mit Kopfschmerzen, einem hartnäckigen Schnupfen oder schlicht zum Impfen den Mediziner seines Vertrauens konsultiert, rufe sich die rekonstruierte Jenna in Erinnerung. Er reflektiere für einen Moment die unverzichtbare Bedeutung des ärztlichen Wissens, denn es ist ein hochprofessionelles Netzwerk von Ingenieuren, Medizintechnikern und Grundlagenforschern mit Medizinern an den Integrationsstellen, das für den Funktionsverbund Mensch arbeitet.
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