„Zwieback für Zimmer 7“ ist der Anlass, warum ich mich heute mit der manchmal ambivalenten, eheähnlichen Beziehung von Ärzten und Pflegern auseinander setze. Dabei soll es um die Frage gehen, wie aus den unterschiedlichen Ansätzen der beiden Partner ein Verständnis füreinander wachsen kann. Welcher Mittel können wir uns bedienen, um Missverständnissen vorzubeugen?
Zwieback für Zimmer 7
„Zwieback bei Diarrhö“, steht auf dem Monitor vor mir, als ich den Mauszeiger über die ärztliche Anordnung halte. Ich arbeite heute als examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger auf einer hämato-onkologischen Station und versuche, zusammen mit meinem Kollegen 24 Patienten zu versorgen. „Sach ma“, entfährt es mir, „sonst geht’s aber noch?“
Verständnislos fragen wir uns, warum der ärztliche Kollege nicht einfach die fünf Meter aus seinem Zimmer zu uns kommt und stattdessen elektronisch wissen lässt, dass der Patient in Zimmer 7 nun unter Diarrhöen leidet.
Look left, look right
Im klinischen Alltag passiert es leicht, dass vorschnelle Annahmen über den Geisteszustand des Gegenüber getroffen werden. Das ist ungefähr so verhängnisvoll wie wenn man als Deutscher in London beim Überqueren der Straße in die falsche Richtung guckt.
Ich schreibe von einer manchmal ambivalenten Beziehung. Warum ich diesen im Allgemeinen eher negativ besetzten Begriff gewählt habe, möchte ich gerne näher erläutern: Aus dem Lateinischen stammend lässt sie sich durch die Übersetzungen ambo „beide“ und valere „gelten“ beschreiben. Professor Eugen Bleuler beschrieb die Ambivalenz 1910 während der Ordentlichen Winterversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Bern als äußerlich begründet: „Jedes Ding hat seine zwei Seiten. Der Normale zieht meistens, aber nicht immer, das Fazit aus beiden […].“
Er führt zudem an, dass „die Ambivalenz des Willens macht, dass man überlegen muss“, was mir ein ausgesprochen guter Gedanke scheint. Sein eigenes Tun und Denken zu reflektieren halte ich in unserem Beruf für unabdingbar und eine Fähigkeit, die uns nicht eigen ist, sondern erlernt wird.
Mir geht es in diesem Sinne also nicht um Recht oder Unrecht, sondern um die Benennung verschiedener Sichtweisen. Ehetherapie, sozusagen. Beide haben Recht, wissen es aber noch nicht.
Beide haben Recht
Interessanterweise haben nicht nur die Pflege und Ärzte beide Recht und das gleiche Ziel, sondern bedienen sich sogar der exakt gleichen Argumentation: Regelmäßig insistieren beide Berufsgruppen, dass doch jene Tätigkeit Aufgabe des jeweils anderen sei. Durch Kompetenzschnittstellen mit artifiziellen, bereichsindividuellen, teilweise unklaren oder historischen Abgrenzungen entstehen regelrechte Kompetenzkrisen. Ist die Blutentnahme nun ärztliche oder pflegerische Aufgabe? Wer entscheidet, wie in unserem Beispiel, über die Ernährung?
Um zu verstehen, wer welche Kompetenzen mit in den Arbeitsalltag bringt und nach welchem Selbstverständnis sie gelebt werden, möchte ich dazu ermutigen, einmal abstrahiert die verschiedenen Positionen zu beleuchten.
Ähnlichkeiten in der Lehre
Zunächst muss ich aber feststellen, dass zentrale Aspekte unseres Denkens gleich gelehrt werden: Sowohl in der Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger als auch im Studium der Humanmedizin wird der ganzheitlichen, empathischen Betrachtung des Menschen ein großer Stellenwert eingeräumt. Früh lernen wir, dass Frau Müller nicht „die Diarrhö auf Zimmer 7“ ist und die Behandlung des Herzinfarkts nicht nach dem Herzkatheter aufhört. Wir lernen beide nicht nur viel über die Pathophysiologie von Erkrankungen, sondern auch die Auswirkungen auf das Leben unserer Patienten.
In der Praxis leiden wir unter einer großen Gemeinsamkeit, nämlich dass die Organisation von allerlei Dingen als wenig originäre Tätigkeit angesehen wird. Wer füllt schon gerne gefühlte Berge an Formularen, wenn die Zeit am Patienten besser verbracht wäre.
Dennoch zeigt sich im Krankenhaus in der Regel ein wesentlicher Unterschied in der ärztlichen und pflegerischen Arbeitsweise.
Die Pflege: „Mit meinem Patienten stimmt etwas nicht“
Die Pflegekraft verbringt deutlich mehr Zeit am Patienten als es der Arzt tut. In der Folge wird die Patientenbeobachtung deutlich intensiver geübt, als es dem Arzt möglich ist. Auch wird die emotionale Bindung zum Patienten stärker. Daher fällt es leichter nachzuvollziehen, welchen Maßnahmen aus Patientensicht Priorität eingeräumt werden sollte. Wenngleich die objektive Beschreibung in der Pflege einen hohen Stellenwert besitzt, halte ich die gelernte Intuition in der Patientenbeobachtung für eine wichtige Fähigkeit, um daraus letzten Endes objektive Maßnahmen ableiten zu können.
Diese Intuition drückt sich oft in dem folgenden Satz aus: „Mit meinem Patienten stimmt etwas nicht.“ Ehe wir wissen, was nicht stimmt, gibt uns diese subjektive Information die Chance, zu handeln und die Beobachtung weiter zu objektivieren. Das geschieht in gemeinsamer Arbeit durch Ärzte und Pflege, und auch den Patienten will ich nicht unterschlagen. So schließt sich der Kreis.
Ich halte also fest, dass sich die Kompetenzen der Pflege aus dem Vorteil entwickeln, meist intensiver und länger mit dem Patienten zu arbeiten. Man könnte die Pflege als den Part einer Beziehung beschreiben, der mehr zu Hause ist und die Kinder überwiegend begleitet.
Der Arzt: „Der Wert ist mein Freund“
Die Beschreibung der Pflege offenbart gleichzeitig die Kernkompetenz des Arztes: Das Wissen um Erkrankungen sowie speziell deren Diagnostik und Therapie. Gerade zu Beginn des Studiums wird auch Wert auf die ganzheitliche, salutogenetische Betrachtung des Menschen gelegt. Im Gegensatz zur Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege allerdings weicht diese im Verlauf zunehmend der Pathogenese. Auch diese Entwicklung hat, so meine ich, ihre Berechtigung, damit Möglichkeiten bekannt sind, um das Problem des Patienten zu lösen. Das Erlernen und Erfahren eines Verständnisses für die Probleme, welche die Pathogenese zusätzlich im sozialen oder beruflichen Alltag mitbringt, steht daher hinten an. Auch der geringere Patientenkontakt, der eher wissenschaftliche Fragen der Therapie beinhaltet, macht es dem Arzt schwieriger, eine ganzheitliche Betreuung zu gewährleisten. Jede Pflegekraft kann ein Lied davon singen, wenn nach der ärztlichen Visite die Fragen der Patienten ihr Gehör suchen. Wofür der Arzt in diesem Falle wenig kann, aber eine Aussage über die Rollenverteilung erlaubt, die ich hier nicht weiter ausführen möchte. Ich empfinde die Rolle des Arztes also seltsamerweise weiter weg vom Patient und näher an seiner Erkrankung, wenngleich ihn das in dessen Innerstes führt – molekularbiologisch betrachtet.
Dem gegenüber steht der Wunsch, manchmal auch die Angst, alles richtig machen zu wollen. Es kann so dazu kommen, dass eine „Apparatemedizin“ unser Handeln bestimmt. Werte geben eine scheinbare, schnelle Sicherheit, um möglicherweise weitreichende Entscheidungen zu treffen, für die wir einstehen.
Der Arzt ist also eher der Partner, der versucht, mit weniger Zeit dennoch allen gerecht zu werden. Es steckt nicht weniger Herzblut in seiner Arbeit.
Dein Freund und Helfer: Die Kommunikation
Bekanntlich hilft ja oft nur eins: Reden, reden, reden. Aber lassen wir mal die Erkenntnisse und Theorien von Watzlawick, von Thun und Roger zur Gestaltung von Kommunikation weg und konzentrieren uns darauf, wie Fehler vermieden werden können und unseren Patienten eine höchstmögliche Sicherheit geboten werden kann.
Um also richtig zu reden, empfehlen unter anderem die WHO Hilfsmittel wie SBAR. Weil es immer einen Haken gibt, sei dieser gleich zu Beginn genannt: Optimal funktioniert die Übergabe standardisiert. Das bedeutet, dass dieser Standard von den Führungskräften gewollt, an den Bedarf vor Ort angepasst, vorgestellt, eingeführt und trainiert werden muss. Wie bereits erwähnt ist Kommunikation Teamsache.
SBAR bricht viele Methoden der Übergabe auf vier wesentliche Punkte herunter: Situation, Background, Assessment, Recommendation. In genau der Reihenfolge. Auf unsere Eingangssituation bezogen könnte die Übergabe wie folgt aussehen: „Herr Müller, 77 Jahre, in Zimmer 7 hat Durchfall. Dies hat er aufgrund eines Antibiotikums. Er braucht deshalb eine angepasste Kostform bis die Diarrhöen abgeklungen sind. Ich empfehle hierzu Zwieback und ausreichend Flüssigkeit in Form von Tee.“
Einfach. Evident. Professionell.
Fazit – Look left, look right
Wir befinden uns im Spannungsfeld des noch jungen, sich entwickelnden Selbstverständnisses der Pflege und dem Beruf des Arztes, dessen Selbstverständnis etablierter scheint. Kompetenzschnittstellen kombiniert mit einer jeweils eigenen Herangehensweise an die gleiche Aufgabe „Patient“ können ermöglichen, dass dieser umfassend versorgt ist.
Glücklicherweise kennen hierzu beide Seiten gute Mechanismen, welche der Notwendigkeit, gezielt zu kommunizieren und Kompetenzen klar zu verteilen, gerecht werden. Unglücklicherweise müssen diese trainiert werden und erfordern oft eine hohe Disziplin. Der Ehe gleich gilt es täglich neu, Auseinandersetzungen zu nutzen, um ein lebenslanges Lernen als Vorteil zu sehen und uns zu zwingen, die eigene sowie die Rolle des Gegenübers in Konflikten zu reflektieren und sich beider Kompetenzfelder bewusst zu sein. Steht „Team“ allerdings stellvertretend für „Toll, Ein Anderer Macht es“, leidet diese Logik.
Der Zwieback wurde ursprünglich seiner langen Haltbarkeit wegen „zwie“ gebacken. Damit niemand von uns zwei Mal durch das Feuer muss, um am Ende knackig und gut zu sein, lassen wir doch „die Ärzte“ und „die Pflege“ zu dem werden, was sie sind: Kollegen auf Augenhöhe.
Ich danke:
Bildquelle (Außenseite): Steven Depolo, flickr