Die Zusammenfassung der Veröffentlichung „Der evolutionäre Ursprung des weiblichen Orgasmus“ (Perspective and Hypothesis - The Evolutionary Origin of Female Orgasm) von Mihaela Pavlicev und Günter Wagner liest sich eher perspektivisch-hypothetisch. Wie eine Art Besinnungsaufsatz.
Doch hier zunächst die vollständige Übersetzung des wissenschaftlichen Abstracts:
„Der evolutionären Erklärung des weiblichen Orgasmus ist schwierig beizukommen. Der Orgasmus der Frauen dient offensichtlich nicht dem reproduktiven Erfolg und überraschenderweise begleitet er den heterosexuellen Geschlechtsverkehr unzuverlässig.
Zwei Arten von Erklärungen wurden vorgeschlagen: Die eine besteht auf rezent übrig gebliebenen adaptiven Regeln in der Reproduktion; die andere erklärt den weiblichen Orgasmus als ein Nebenprodukt der Selektion zum männlichen Orgasmus, welcher für den Sperma-Transfer entscheidend notwendig ist.
Wir betonen nachdrücklich, dass diese Erklärungen dazu neigen, den Fokus eher auf die Evidenz von der menschlichen Biologie her zu legen, als die Modifikation eines Wesensmerkmals eher an seinen evolutionären Ursprung zu adressieren. Die Spur dieser Wesensmerkmale der Evolution zu verfolgen, benötigt Anlehnungen anderer Spezies zu identifizieren, welche begrenzte Ähnlichkeiten mit der menschlichen Eigenschaft haben.
Der weibliche menschliche Orgasmus ist mit einem schnellen endokrinen Anstieg assoziiert, ähnlich dem kopulationsbedingten Anstieg bei Tierarten mit induzierter Ovulation. Wir schlagen vor, dass die Ähnlichkeit des menschlichen Orgasmus ein Reflex auf den entwicklungsgeschichtlich induzierten Eisprung ist.
Dieser Reflex wurde mit Entwicklung des spontanen Eisprungs entbehrlich, konnte den weiblichen Orgasmus potenziell für anderes Rollenverhalten befreien. Das wird durch phylogenetisch-entwicklungsgeschichtliche Evidenz unterstützt, dass die induzierte Ovulation wesentlich älter ist, und dagegen spontane Ovulation den höher differenzierten Säugetieren zuzuordnen ist.
Zusätzlich zeigt die vergleichende Anatomie des weiblichen Fortpflanzungstrakts, dass die Entwicklung des spontanen Eisprungs mit zunehmender Distanz der Klitoris vom Kopulationskanal korreliert.
Zusammenfassend schlagen wir vor, dass die weibliche orgasmusgebundene Verhaltensweise ein Anpassungsvorgang darstellt, jedoch für eine andere Rolle als namentlich die Induzierung der Ovulation. Mit der Entwicklung des spontanen Eisprungs wurde der weibliche Orgasmus befreit, um andere sekundäre Verhaltensbedeutungen zu gewinnen, welches sein Bestehen, aber nicht seinen Ursprung erklären könnte.“ (© der Übersetzung beim Verfasser)
Ich erspare Ihnen an dieser Stelle die englische Version. Sie ist übrigens in einem gewöhnungsbedürftig slawisch-österreichischen Schreibstil des Autorenpaares gehalten, welcher auch meine Übersetzung nicht gerade erleichtert hat.
Persönliche Fragestellungen
Doch was ist jetzt daran das eigentlich Neue, das man zwingend veröffentlichen musste? Und ist die Unterscheidung zwischen phylogenetisch älterer, Orgasmus-induzierter Ovulation und entwicklungsgeschichtlich neuerer „spontaner Ovulation“ unabhängig vom Orgasmus bei der Frau wirklich zielführend?
Zunächst wird bei der Orgasmus-induzierten Ovulation des Tierreichs die männliche Brunftzeit ausgeblendet. Männliche Tiere sind in der Regel im Jahreszyklus (mehrfach) brünftig, während die weiblichen Tiere dann gar nicht mehr so spontan empfänglich und befruchtungsfähig sind, wenn sie ebenso zyklisch ihre fruchtbaren Tage mit Eisprung haben. Und klare Rückmeldungen über weiblich-tierische Orgasmusfähigkeit bzw. -häufigkeit scheinen in der wissenschaftlichen Literatur zu fehlen. Meiner bescheidenen persönlichen zoologischen Beobachtung und TV-Halbbildung nach wird eher Gleichgültigkeit zur Schau gestellt.
Schlussfolgerungen und Fazit
Das weibliche Zusammenspiel von luteotropem Hormon(LH), Follikelstimulierendem Hormon (FSH), den „releasing Factors“, Östrogen und Gestagen bzw. auch Prolaktin beim Menschen ist meines Erachtens zu kompliziert interagierend, dass dabei wirklich von einer „spontanen“ Ovulation gesprochen werden kann. Das war historisch auch der Grund, warum Kontrazeptiva erstmals als „Pille für die Frau“ entwickelt werden konnten.
Keineswegs gilt als einziger Leitsatz „Jeder Mann kann“: Ejaculatio praecox, die retrograde Ejakulation, der „trockene“ Orgasmus, aber auch der spontane nächtliche Samenerguss ohne Geschlechtsverkehr (Pollution) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Pollution sowie die Masturbation beim Mann induzieren weder Orgasmus noch Ovulation bei der Frau.
Auch dass Frauen im reproduktiven Alter gerade etwa 13 Ovulationen pro Jahr haben und damit nur an circa 26 bis 39 Tagen im Jahr empfängnisbereit sind, während auch häufige männliche Samenergüsse jeweils zig Millionen befruchtungsfähige Samenfäden enthalten, bleibt von einer entwicklungsgeschichtlichen Ursprungserklärung weit entfernt.
Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund (z. Zt. Bergen aan Zee)
Originalpublikation:
The Evolutionary Origin of Female Orgasm Mihaela Pavličev, Günter Wagner; Journal of Experimental Zoology, doi: 10.1002/jez.b.22690; 2016
Bildquelle (Außenseite): Neil Conway, flickr