An Inkontinenz leiden zwischen fünf und zehn Millionen Deutsche. Genaue Zahlen gibt es nicht, das Thema wird nach wie vor tabuisiert. Was Mediziner tun können: Nachfragen. Im Patientengespräch sollten Ärzte nicht darauf warten, dass ihr Gegenüber den ersten Schritt macht.
Das Thema Harninkontinenz ist schambehaftet, Betroffene reden nicht gerne darüber. Aus diesem Grund lässt sich auch schwer feststellen, wie viele Menschen tatsächlich an Inkontinenz leiden. „Alleine in Deutschland sind etwa 5 bis 8 Millionen Menschen betroffen. Geht man von den Verkaufszahlen der Hersteller für Inkontinenzhilfsmittel aus, so dürften über 10 Millionen Menschen in Deutschland an Inkontinenz leiden,“ heißt es auf der Internetseite des Selbsthilfeverbands Inkontinenz in Sinzing. Epidemiologische Studien zur Häufigkeit kommen zu relativ unterschiedlichen Prävalenzen. So kann eine direkte telefonische Befragung deutlich geringere Werte ergeben als die Verwendung eines anonymisierten Fragebogens. Ausgehend von den zur Verfügung stehenden Daten sieht die Lage folgendermaßen aus: Laut einer Befragung in Deutschland nimmt die Häufigkeit von Inkontinenz mit dem Alter deutlich zu. Bei den 18- bis 40-Jährigen sind es 6,1 %, bei den 41- bis 60-Jährigen über 9,5 %, bei Personen über 60 Jahre 23 %. Frauen beklagten mit 15 % deutlich häufiger Inkontinenzbeschwerden als Männer mit 9,5 %. Eine neuere Untersuchung unter 8.000 deutschen Frauen zwischen 18 und 96 Jahren kam sogar zu dem Ergebnis, dass bei 48,3 % aller befragten Frauen binnen der letzten vier Wochen Urin abgegangen war. Das Alter wirkte sich dieser Studie nach am meisten als Risikofaktor aus, gefolgt von Adipositas, vaginalen Entbindungen, COPD, Diabetes und weiteren Komorbiditäten. Sowohl die Lebenserwartung als auch die Prävalenz adipöser Frauen steigen weltweit. Da beide Faktoren eine Assoziation mit Harninkontinenz aufweisen, ist zu erwarten, dass auch ihre Häufigkeit zunehmen wird. Die für Ärzte besonders relevanten Fragen: Welche Inkontinenzarten gibt es und wie werden sie behandelt?
Bei Belastungs- oder Stressinkontinenz kommt es zu einem unbeabsichtigten Austritt von Urin, wenn sich der intraabdominelle Druck z. B. durch Husten, Niesen oder körperliche Anstrengung erhöht. Sie kann durch eine Hypermobilität der Urethra und/oder eine unzureichende Funktion ihres Schließmuskels bedingt sein. Lasak et al. nennen für Stressinkontinenz Prävalenzen von 20,8 % bei Frauen und 1,5 % bei Männern. Frauen im Alter von 20–29 Jahren sind zu 3,5 % betroffen, ab 80 Jahren sind es 38 %. Auch mit steigendem BMI erhöht sich das Risiko, bei Adipositas um Faktor 2,3 und bei Übergewicht um Faktor 1,4.
Als erste Therapie kommt bei Belastungs- und Stressinkontinenz vor allem Beckenbodentraining, ggf. in Kombination mit Elektrostimulation und Biofeedback, zum Einsatz. Die normale Funktion der Beckenbodenmuskulatur ist für den Erhalt der Kontinenz notwendig. Sie kann durch ein spezielles Training gestärkt werden. Wichtig ist dabei eine individuelle physiotherapeutische Anleitung, da einer Untersuchung zufolge etwa nur die Hälfte der Patienten in der Lage ist, die Übungen eigenständig spontan korrekt durchzuführen. Bei 25 % der Untersuchungsteilnehmer führten zu allgemeine verbale Anweisungen dazu, dass fehlerhafte und sogar Inkontinenz-fördernde Techniken angewandt wurden. Radzimińska et al. stellten in ihrem Review fest, dass sich in allen der 24 einbezogenen Studien mit insgesamt 2.394 inkontinenten Probandinnen eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität durch Kräftigung des Beckenbodens zeigte. Sie kommen zu folgender Schlussfolgerung: „Beckenbodentraining ist eine wirksame Behandlung für Harninkontinenz bei Frauen, insbesondere bei Belastungsinkontinenz. Es könnte auch als konservative Erstlinienbehandlung für ältere Frauen empfohlen werden. […] Die Dauer sollte 6 Wochen nicht unterschreiten und unter Anleitung erfolgen.“ Ein Erhalt des Effektes ist bei mindestens wöchentlichem Training gegeben. Zudem können Hilfsmittel wie Pessare oder spezielle Tampons bei Belastungssituationen (z. B. Sport) dauerhaft getragen werden.
Wenn die konservative Therapie der Belastungsinkontinenz keinen ausreichenden Erfolg hat, kann durch Operationen die Hypermobilität der Harnröhre mit Bändchen korrigiert oder der Beckenboden durch Netze gestützt werden. Der Behandlungserfolg dieser Operationen wird jedoch kontrovers diskutiert, da der positive Effekt stark von der Art des Eingriffs abhängt und mit der Zeit verloren gehen kann. Der Goldstandard für Operationen der Belastungsinkontinenz ist das Scheidenband bzw. die spannungsfreie Schlinge, die laut Reisenauer auch dauerhaft zu sehr guten Erfolgen führt.
Der duale Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin ist der einzige Wirkstoff, der für die medikamentöse Behandlung der Belastungsinkontinenz zugelassen ist. Prof. Dr. Christl Reisenauer weist darauf hin, dass „durch die medikamentöse Therapie keine Heilung erfolgt, sondern ,nur‘ eine Verbesserung der Inkontinenz. Da die Heilung das Ziel ist, kann man Duloxetin vorübergehend oder ergänzend einsetzen, aber es ist keine Dauerlösung, auch aufgrund der Nebenwirkungen,“ erklärt die Leitende Oberärztin der Urogynäkologie am Universitätsklinikum Tübingen. Auch Bronagh McDonnell und Lori Ann Birder halten die Situation der medikamentösen Behandlung von Harninkontinenz für nicht zufriedenstellend. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass „im Hinblick auf die pharmakologische Behandlung viele Arzneimittel eine geringe Wirksamkeit und eine erhöhte Inzidenz von Nebenwirkungen zeigen. […] Es besteht ein Bedarf für die Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze, insbesondere in Bezug auf Belastungsinkontinenz, für die nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung stehen.“
Schwangerschaft und Entbindung erhöhen das Risiko für Inkontinenz ebenfalls, einer vergleichenden Studie zufolge leiden Frauen 20 Jahre nach einer vaginalen Geburt zu 67 % häufiger an Inkontinenz als nach einem Kaiserschnitt. Eine mehr als zehn Jahre andauernde Inkontinenz trat sogar zu 275 % häufiger nach vaginaler Geburt auf. Starke körperliche Aktivität mit Erschütterungen oder hohem Kraftaufwand kann auch bei jüngeren Frauen dazu führen, dass der intraabdominelle Druck den normalen Kontinenzmechanismus überfordert und Urin austritt. Dies bestätigt eine Meta-Analyse, die eine Prävalenz von 36 % bei weiblichen Athleten verschiedener Sportarten ergab. Verglichen mit inaktiven Frauen war das Risiko für Harninkontinenz bei den Sportlerinnen um 177 % höher. Da besonders von jüngeren Personen erwartet wird – und sie es auch von sich selbst erwarten– vital und „voll funktionstüchtig“ zu sein, ist Inkontinenz für diese Gruppe psychisch sehr belastend.
Bei Dranginkontinenz tritt ein plötzlicher Harndrang auf, der auf dem Weg zur Toilette zu Urinaustritt führen kann. Verursacht wird dies in der Regel durch eine Überaktivität der harnaustreibenden Muskulatur, z. B. infolge eines Schlaganfalls oder bei Tumoren. Sie kann auch bei Harnwegsinfekten auftreten. Die Dranginkontinenz ist medikamentös gut behandelbar. Antimuskarinika/Anticholinergika werden oft in Kombination mit Verhaltens- und Lebensstiländerungen verwendet, z. B. Beckenbodenmuskeltraining oder Reduktion der Koffeinaufnahme. Sie sind sehr wirksam, werden aufgrund ihres breiten Nebenwirkungsspektrums jedoch zunehmend hinterfragt. Zu den Nebenwirkungen zählen Mundtrockenheit, Verstopfung und verschwommenes Sehen. Auch weisen neuere Erkenntnisse darauf hin, dass sie bei älteren Menschen zu kognitiven Beeinträchtigungen führen sowie mit affektiven Störungen einschließlich Depressionen einhergehen können. Eine Alternative stellt der β3-Adrenozeptor Agonist Mirabegron mit einer ähnlichen Wirksamkeit wie die meisten Antimuskarinika, jedoch weniger Nebenwirkungen, dar. Eine Entscheidungshilfe für die Pharmakotherapie bei Senioren, die aufgrund von Multimorbidität häufig sehr viele Medikamente einnehmen, bietet die FORTA-Liste (Fit fOR The Aged), die auch als App erhältlich ist.
Prof. Dr. Christl Reisenauer, 2. Vorsitzende der Deutschen Kontinenz Gesellschaft und Leitende Oberärztin der Urogynäkologie am Universitätsklinikum Tübingen Eine andere Methode beschreibt Reisenauer als ihren schönsten Behandlungserfolg bei einer 40-jährigen Patientin mit starker Dranginkontinenz, die mehrere Windeln täglich benötigte: „Nachdem wir ihr einen Blasenschrittmacher gesetzt hatten, war sie trocken und benötigte nicht einmal mehr eine Slipeinlage.“ Als Mischinkontinenz wird eine Kombination aus Stress- und Dranginkontinenz bezeichnet. Wenn diese sehr ausgeprägt ist, dann ist die Prognose laut Reisenauer leider nicht so gut: „Es gibt keine Therapie, die sowohl die Belastungs- als auch die Dranginkontinenz abdeckt.“
Ein unwillkürlicher Harnfluss aus einer vollen Blase wird als Überlaufinkontinenz bezeichnet. Eine Schwäche der Blasenmuskulatur oder eine blockierte Urethra führt zu einer unvollständigen Entleerung der Blase. Diese Form der Inkontinenz kann Resultat einer neurologischen Schädigung durch Diabetes oder andere Krankheiten sein. Weiter können Tumore oder Harnsteine die Harnröhre blockieren. Dies ist auch der Fall bei einer benignen Prostatahyperplasie, die die häufigste Ursache für Blasenauslassverschlüssen bei Männern ist. Diagnose und Therapie einer Überlaufinkontinenz sollten immer vom Facharzt durchgeführt werden.
Seltene Inkontinenzformen sind häufig neurologischen Ursprungs oder von extraurethraler Ursache wie etwa Fehlbildungen oder Fisteln. Fisteln treten in Deutschland hauptsächlich nach Operationen auf, seltener nach Geburten. Reisenauer schildert den Fall einer Patientin, die nach einer Geburt an Inkontinenz litt: „Die junge Frau, Anfang 30, ist sechs Jahre lang von einem Arzt zum anderen gegangen und die Fistel wurde nicht erkannt. Ihre Inkontinenz wurde fehlinterpretiert und blieb deshalb unbehandelt. Als sie wieder schwanger wurde, wuchs die Fistel zwischen Blase und Gebärmutter, und sie hatte gar keine normale Ausscheidung mehr. Die Geburt wurde dann mit Kaiserschnitt beendet und die Fistel gleichzeitig verschlossen.“ Einen Sonderfall im Bereich der Inkontinenz stellt außerdem die Enuresis bei Kindern dar, die als mehr als zweimaliges nächtliches Einnässen pro Monat nach dem fünften Lebensjahr definiert ist. Die Prävalenz im Alter von 7 Jahren liegt bei 7–13 %, Jungen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Die Spontanremissionsrate beträgt 15 % jährlich. Wenn psychosomatische Ursachen und Harnwegsinfekte ausgeschlossen wurden, erzielen verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Therapien mit Desmopressin gute Erfolge.
Inkontinenz kann unterschiedlicher Ursache sein, und je nach Form stehen verschiedene Behandlungsoptionen zur Verfügung. In vielen Fällen hilft bereits ein Beckenbodentraining unter krankengymnastischer Anleitung, das nach Erlernen der Technik später dauerhaft eigenständig weitergeführt werden sollte. Neben den „typischen“ Inkontinenzformen sollten Ärzte jedoch auch ungewöhnliche Ursachen in Erwägung ziehen. Betroffene sprechen häufig erst bei einem hohen Leidensdruck mit dem Arzt. In der hausärztlichen Leitlinie zum geriatrischen Assessment wird deshalb die aktive Frage nach Harninkontinenz empfohlen. Reisenauer beobachtete in den letzten 20 Jahren den positiven Wandel, dass Patienten sich heute eher an ihren Arzt wenden, wenn sie einen Leidensdruck verspüren. Trotzdem appelliert sie an Frauenärzte, die Initiative zu ergreifen und das Thema selbst im Gespräch mit Patienten anzusprechen, um präventiv eingreifen zu können: „Auch im Rahmen der normalen gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung sollte nach Problemen mit der Blasenfunktion gefragt werden“, betont sie.