Wenn es nach mir ginge, würde man den Begriff „Depression“ ersatzlos aus dem Sprachgebrauch der Psychotherapie / Psychiatrie streichen. Weil damit der fälschliche Eindruck entstehen könnte, dass „Depression“ quasi eine einzige Erkrankung bzw. Symptomatik ist. Depressionen sind aber so individuell wie ein Fingerabdruck. Und überhaupt nicht eindeutig.
Depressionen ohne depressiv zu sein oder depressiv zu sein ohne Depression
Vor vielen Jahren habe ich als Assistenzarzt in der Abteilung Psychiatrie der Uni Mainz ein sehr klares Bild der biologischen Psychiatrie von einer Major Depression bzw. Depressiven Episode erhalten. Damit meinten wir eine mindestens 14 Tage anhaltende, klar abgrenzbare Episode mit den typischen Veränderungen des Denken, Fühlen und Handelns. Entweder als einzelne Episode oder eben wiederkehrend (rezidivierend). Unipolar (also „nur“ depressiv) oder eben bipolar (mit manischen Episoden) und notfalls halt noch schizoaffektiv. Soweit – so einfach. Die Leitlinien geben da relativ klare Vorgaben, wie man sowas diagnostiziert und wie man es behandelt.
Der Vorwurf von „uns“ Psychiatern an die „dummen“ Hausärzte ist dann vielleicht, dass sie zu spät oder gar nicht depressive Patienten einer Behandlung zuführen. Also vielleicht lange selber mit Johanniskraut oder Opipramol rumdoktern, statt nur wirklich nach den vorgegebenen und durch wissenschaftliche Standards (Review) der Depressionen vorzugehen. Das bedeutet dann in der Regel eine Behandlung, die sowohl Antidepressiva und ggf. Phasenprophylaktika, Psychotherapie und nicht-medikamentöse Verfahren wie beispielsweise Schlafentzug oder Lichttherapie beinhalten. Und die psycho-sozialen Aspekte von depressiven Menschen berücksichtigt.
Typisch „Depression“?
Es kann gar nicht genug betont werden, dass sich dieses Vorgehen bewährt hat und für viele Patientinnen und Patienten richtig und lebensrettend sein kann bzw. IST. Aber es gibt eben die Formen von „Depression“, die keine Depression ist. Oder nicht wie Depressionen erscheinen.
Einerseits spricht man dann von „atypischer Depression“. Landläufig haben wohl die meisten meiner psychiatrischen und psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen da ein Krankheitsbild im Kopf, das einer etwas überdrehten Person entspricht. Die durch Aktivität und ständige Ablenkung quasi verleugnet bzw. nicht wahrhaben will / kann, dass sie stockdepressiv sein müsste.
Seit wenigen Tagen bin ich jetzt als Oberarzt in einer Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik im Essstörungsbereich tätig. Eine Bereich, der mir durch frühere Tätigkeiten nicht gänzlich unbekannt ist. Die 12 bis 17-jährigen überwiegend schwer (?) anorektischen Mädchen haben nur in einem sehr geringen Ausmaß affektive Störungen als Zusatzdiagnosen. Und wirken häufig nun ganz und gar nicht „depressiv“.
Pro und Contra Antidepressivum
In meiner ersten Oberarztvisite „zum Kennenlernen“ begegnete mir u.a. die 14-jährige Mara (den Namen habe ich mir jetzt ausgedacht). Mara sprach an, dass sie von einem Kinder- und Jugendpsychiater 40 mg Fluoxetin (also ein SSRI-Antidepressivum) bekommt, sich selber aber gar nicht in den Literaturbeschreibungen von Depressionen wiederfindet. Das Medikament helfe ihr schon. Sie habe aber gelesen, dass Antidepressiva bei Jugendlichen eben nicht die Wirkung haben, die wir aus dem Bereich der Erwachsenenpsychiatrie kennen. Und das es durchaus ein Pro und Contra zum Einsatz dieser Medikamente gibt. Das wäre ein Thema für sich. Und natürlich auch eine eigene Diskussion wert, wie man nun bei einem jungen Mädchen im schweren Untergewichtsbereich mit Medikamenten und Risiken umgeht.
Mara fühlt sich nicht depressiv
In der Patientenakte fand ich neben der Diagnose Anorexia nervosa (restriktiver Typ), eine leichte depressive Störung verschlüsselt. Vor mir saß aber ein totunglückliches Mädchen. Ein Mädchen, das aber hinsichtlich der Anzahl bzw. Ausprägung von Symptomen nach ICD oder DSM nicht „genügend“ depressiv ist, um depressiv sein zu können. Wenn wir Checklisten behandeln würden, wäre sie sicher nicht wirklich mittelschwer oder schwer depressiv einzuorden, was sich auch in der Testpsychologie so abbildete.
Mara erklärte mir auf meine Frage nach der Bedeutung der „Depression“, dass Sie sich nicht depressiv fühle. Unglücklich ja. Und mit Selbsthass. Das ja. Und mit Stimmungsschwankungen, die ihr selber umheimlich sind, die aber ihre Anorexie im Griff habe. Sie habe schon überlegt, ob sie einfach „becheuert“ sei, sich da in ETWAS hineinsteigere. Weil es ihr nicht gut ginge. Dafür hätte sie ja auch in Hinblick auf die Essstörung und das entgangene Leben bzw. die fehlende Teilhabe am normalen Leben ihrer Freundinnen und der Familie auch jeden Grund. Und in der Tat: Hier habe ihr Fluoxetin schon geholfen. Das Tief sei nicht so tief, ncht so schwarz. Und doch sei es nicht wirklich besser. Ja vielleicht sogar noch schlechter.
Aber dieser Zustand bestände schon seit Jahren. Und er bestehe auch schon vor der Entwicklung der Essstörung selber. Eigentlich sei die Anorexie eher die Lösung für das Problem dieses Zustandes. Ein Zustand der aber eben mit dem einfachen Begriff „Depression“ überhaupt nicht genügend oder auch nur ansatzweise erfasst sei.
Eigenständige Form von Symptomen
Ich lerne sehr gerne von meinen Patientinnen. Noch dazu, da ich selber u.a. das Konzept einer Rejection Sensitive Dysphoria bei vielen Patientinnen und Patienten aus dem ADHS- und Autismussprektrum gut finde, wo ich jede Menge Parallelen zum Leiden von Mädchen (und Jungs) aus dem Essstörungsspektrum sehe.
Wir begannen also ein Gespräch darüber, ob man eine Depression ohne depressive Symptome haben kann. Eben eine „atypische Depression“, die sich aber von den herkömmlichen Vorstellungen der „atypischen Depression“ unterscheidet. Im Nachlauf habe ich dann den englischsprachigen Begriff „high functioning depression“ gefunden. Keine Ahnung ob es sowas im deutschsprachigen Gebrauch auch analog zu hochfunktionalem Autismus gibt. Also eine „hochfunktionale Depression“, die für sich eine ganz eigenständige Form von Symptomen bietet.
Das Leben in der Blase
Mara schilderte mir, dass sie in einer Art Blase lebe. Ich frage dann gerne nach, wie diese Blase bildlich bzw. von der Funktion her aussieht. Es ist bei Mara eine grau-milchig, nebelige wabelige Form, die sie umgibt. Um sie herum spiele sich das Leben ab. Sie erkenne es, da sich um die Blase Gestalten bewegen. Die aber eben gerade nicht klar erkennbar und schon gar nicht spürbar seien. Sie entferne sich vielmehr mehr oder weniger von Tag zu Tag mehr von der Umwelt. Von der Realität. Und von ihrer eigenen Persönlichkeit.
Ich führte dann den Begriff der Derealisation bzw. Depersonalisation ein. Also eine Art Kontakt- oder Beziehungsstörung zum Fühlen und Erleben der emotionalen Umgebung. Hierin konnte sich Mara sehr gut wiederfinden. Ja, die Blase schütze sie und verhindere aber gleichzeitig, dass sie am Leben teilnehmen könne. Sie beobachte es mehr als das sie emotional oder im Sinne von eigenem Handeln und Steuern ihres Schicksals daran beteiligt sei.
Die Blase als Winterjacke
Die Blase sei wie eine Winterjacke. Eine Winterjacke, die viel zu eng sei. Sie zwänge sie ein. Ja. Aber sie schütze auch. Dieser Schutz sei aber keinesfalls gegen eine unwirkliche, zu kalte oder unwirkliche Umgebung gedacht. Vielmehr traue sie ihren eigenen Gefühlen, ihrer eigenen emotionalen Welt nicht über den Weg. Sie brauche die enge Winterjacke, damit sich ihr „zuviel“ an Emotionalität nicht ungezügelt nach aussen zeige.
Hier spürte ich Mara dann tatsächlich das erste Mal mit einem Gefühl von Traurigkeit. Einer Traurigkeit, die ich durchaus als „depressiv“ beschreiben könnte. Aber es wurde mir auch deutlich, dass eigentlich die Blase bzw. Winterjacke und sicher auch die Essstörung an und für sich davor schützt, dass „echte Gefühle“ erkennbar wären. Das Mara sie dann aushalten müsste ohne darauf wirklich vorbereitet zu sein. Oder aber ihrer Umgebung = Familie oder uns als Team offenbaren müsste.
Das ist traurig. Das ist kein Leben.
Ist es aber eine „Depression“ oder Dysthymie, so wir Psychotherapeuten oder Psychiater sie uns nach Lehrbuch vorstellen? Wohl nicht. Aber es ist ein Zustand, mit dem sie über mehrere Jahre „funktionierte“. Wie viele Anorexie-Patientinnen mit scheinbar hervorragenden Leistungen in der Schule, mit Freundinnen, mit Anerkennung für Musikalität und Kreativität, mit einem vordergründig sehr freundlichen und empathischen Wesen.
Die Winterjacke wird zu eng, aber neue Mode ist nicht in Sicht. Ich fragte Mara, ob es nicht Zeit für eine neue Jacke wäre. Eine Alternative zu diesem – offenbar ja noch funktionellem System.