Ich möchte in diesem Beitrag darüber schreiben, wie uns das Spiel aus Nähe und Distanz täglich fördert und fordert. Wieviel Nähe sollten wir zulassen? Wieviel Distanz gilt es zu wahren? Und was hat das mit Party und Liebe zu tun?
„Bei euch Ärzten wäre es mir ja lieber, ihr würdet immerzu viel lernen, anstatt Party zu machen.“
So oder so ähnlich formulierte ein Patient mir gegenüber seine Idee, wie mutmaßlich eine gute Behandlung stattfinden kann – durch Ärzte, die immer viel gelernt haben und viel wissen.
Fragen
Um mich dem Thema mit der nötigen Professionalität zu nähern, habe ich nach der ersten, groben Gliederung eine große Suchmaschine aktiviert und nach den Begriffen „Nähe“ und „Distanz“ gesucht. Ich wurde nicht enttäuscht: Unter den ersten vier Ergebnissen befinden sich drei Datingwebseiten. Wie leicht zu vermuten ist, geht es im Folgenden aber weniger um die (aktuelle oder potentielle, professionell beworbene) Partnerschaft zu unseren Liebsten zuhause. Das mit der Suchmaschine habe ich daher für diesmal bleiben lassen, wenngleich ein wichtiger Zusammenhang deutlich wird: Nähe und Distanz hat etwas mit Gefühl(en) zu tun. Mit Liebe?
Gleich zwei große Fragen (kurz bearbeitet) beschäftigen mich im Zusammenhang mit Nähe und Distanz.
Erstens: Wie ist es um die Nähe beziehungsweise Distanz zur Medizin bestellt?
Zweitens: Wie verhalten wir uns gegenüber Patienten?
Die Medizin
Erinnern wir uns an all die Tribute, die wir der Medizin zollen, scheint die Liebe groß und von Distanz keine Spur zu sein: Ob tiefe Augenringe nach Nachtschichten (am Schreibtisch, im Labor oder auf Station), liebevolle Verse auf die Anatomie (der arme Onkel Otto orgelt sich bestimmt die Finger wund…) oder Körpersekrete völlig fremder Menschen, von denen wir kaum mehr als eine (Verdachts-)Diagnose kennen, auf unseren formvollendeten Kasacks.
Für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung von Distanz zu ihrem Fach bei Medizinern führen, wird von der Nähe keine Belohnung ausgelobt. Kurzzeitige Neckereien („Warum mach ich den Mist hier eigentlich?“) verschwinden (glücklicherweise) oft schneller als jedes gut geölte Zäpfchen.
Dass eine gewisse Distanz dennoch gut tut und wieder mehr Lust auf die Medizin macht, zeigt sich mir meist im Urlaub. Einerseits ist er notorisch zu kurz: Kaum hat man wiederentdeckt, dass es auch normale Bücher und Hobbies gibt, genügt die Zeit nicht mehr, um alles zu tun, was man sich vorgenommen hat. Am Ende freue ich mich andererseits doch wieder auf die Besonderheiten des medizinischen Alltags.
Die Patienten
Die Intimsphäre des einen beginnt, sobald man einen Fuß ins Zimmer setzt, ein anderer stellt sich gerade vor und die (körperliche) Distanz schrumpft auf eine Nähe, aus der man mit minus fünf Dioptrien problemlos Nasenhaare zählen könnte. Dazwischen gibt es wohl alles.
Noch viel intensiver als im vorherigen Abschnitt fällt es uns schwer, erwiderte beziehungsweise nicht erwiderte Nähe professionell einzuordnen und darauf mindestens so professionell zu reagieren. Theoretische Begriffe wie Gegenübertragung und Reflexion bekommen auf einmal doch eine ganz praktische Bedeutung, so rudimentär sie im Studium und Arbeitsalltag auch behandelt werden mögen.
Die Party
Um Gefühle einzuordnen braucht es Zeit und Übung. Wir brauchen (Aus-)Zeit(en), um gesund zu bleiben, die Leidenschaft an unserer Leidenschaft zu erneuern. Und wir brauchen Eindrücke, die uns einen echten Perspektivenwechsel ermöglichen.
Empathie bedeutet Einfühlungsvermögen: Ein-fühlen. Zurück auf Anfang, zurück zu Nähe und Distanz. Ich hoffe für meinen Patienten, dass er diese menschlichen Fähigkeiten niemals bei einem Arzt missen muss. Und ich hoffe für uns, dass wir niemals eine gute Party missen müssen.
Einer Primaballerina gleich tanzen wir auf einer Bühne, deren Regie es zu übernehmen gilt.
Durch Nähe zum Publikum. Durch Distanz zum Publikum.
Auf welche Liebe haben wir uns da eingelassen?