Durch die Trägheit unserer Diagnosesysteme, die neue Erkenntnisse nur langsam umsetzen, können wir bei Mobbing-Opfern „offiziell“ keine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren.
Neulich war es mal wieder so weit. Eine meiner Patientinnen kam aus der Trauma-Ambulanz zurück. Sie hatte dort einige umfangreiche Tests absolviert und ein ausführliches Gespräch mit dem dortigen Arzt geführt.
Am Ende war die Sache klar. Sie zeigte alle wesentlichen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und die Empfehlung lautete, sie solle eine trauma-orientierte Psychotherapie durchführen lassen.
Der Arztbrief, den sie mir vorlegte, zeigte als Diagnose ... na, was? Raten Sie mal! ICD F32.2 schwere depressive Episode.
Wo ist die PTBS abgeblieben?
Hoppla, werden jetzt manche denken, aber die typischen PTBS-Symptome und die Empfehlung, eine Traumatherapie zu machen, und das Ganze noch durchgeführt auf dem hohen Level einer Spezialambulanz ... Wo ist denn die Diagnose PTBS abgeblieben?
Wenn die Diagnostik dieser Störung Fahrt aufnimmt und alles immer schneller und eindeutiger auf diese Diagnose zuläuft, kommt plötzlich eine Mauer in Sicht, auf der steht ein einziger Begriff: KRITERIUM A
Manch eine Diagnose ist schon an dieser Mauer zerschellt, so auch die PTBS meiner Patientin von neulich. Worum handelt es sich dabei? Eine chemische Formel? Ein radioaktives Element? Ein Gesetzesparagrah?
Kriterium A: Der Auslöser muss genau definiert sein
Nein, das „Kriterium A“ bezeichnet den Auslöser, also das eigentliche Trauma, das einer PTBS natürlich vorausgehen muss.
Die ICD-10 fordert:
Das DSM-IV fordert:
Eine Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis war gegeben und zwar:
Ein „Kriterium A“ wird landläufig akzeptiert, wenn es sich bei dem Trauma um einen schweren Unfall, Naturkatastrophe, Mordanschlag, Vergewaltigung o.ä. handelt.
Mobbing – nicht schwerwiegend genug?
Bei meiner Patientin war als Auslöser ihrer posttraumatischen Symptomatik aber jahrelanges Mobbing vorangegangen. Und diese Belastung wird in den allermeisten Fällen nicht als ausreichend schwerwiegend angesehen, um eine PTBS auszulösen.
Die Fachambulanz hat nichts falsch gemacht, sie darf unter diesen Umständen keine PTBS diagnostizieren. Der Fehler liegt vielmehr in den gängigen Klassifikationssystemen, die Mobbing als Auslöser für eine PTBS nicht einschließen.
Das führt zu dem paradoxen Effekt, dass meine Patientin zwar mit der Empfehlung einer Traumatherapie die Fachambulanz verlässt, aber die entsprechende Diagnose nicht gestellt werden darf.
Diagnosesysteme sind manchmal wie Dinosaurier
Die Diagnosesysteme sind in manchen Bereichen wie Dinosaurier, die schwerfällig durch die Landschaft tappen und nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben. Ein sehr unbefriedigender Zustand. Da hilft es auch nichts, wenn das renommierte „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ (von Fischer und Riedesser) Mobbing ein eigenes Kapitel widmet.
Stand heute ist immer noch: Wer gemobbt wird, dadurch alle Symptome einer posttraumatischen Störung entwickelt und laut Empfehlung einer Spezialambulanz eine Traumatherapie durchführen soll, hat keine PTBS. Zumindest nicht auf Basis von ICD und DSM.
Peter Teuschel