Wie lässt sich das weltweite Adipositas- und Diabetes-Problem in den Griff bekommen? Mediziner haben ein Hormon im Fettgewebe entdeckt, das Hoffnungen auf neue Therapien weckt. Menschen, denen das Hormon fehlt, haben wenig Appetit und sind auffällig schlank.
Forscher suchen intensiv nach einem Heilmittel, mit dem sich das weltweite Adipositas- und Diabetes-Problem in Griff bekommen lässt. In körpereigenen Molekülen, die den Appetit und Stoffwechsel regulieren, sehen sie ein großes Potential. DocCheck berichtete bereits über vielversprechende Experimente mit dem gewichtsregulierenden Protein GDF-15. Inzwischen haben Wissenschaftler aus den USA eine neue Substanz ausfindig gemacht, die sich im Kampf gegen Diabetes und Adipositas behaupten könnte. Das Team um Atul R. Chopra vom Baylor College of Medicine in Houston untersuchte dazu Menschen, die an dem seltenen Marfan-Lipodystrophiesyndrom leiden. Betroffene haben sehr wenig Appetit und sind extrem schlank. Neben einer partiellen Lipodystrophie, also reduziertem Unterhautfettgewebe, weisen sie auch geringe Insulin-Konzentrationen im Plasma bei normalem Blutzuckergehalt auf. Bei genetischen Analysen fiel dem Team auf, dass diesen Menschen ein bisher unbekanntes Hormon fehlte.
Dieses Hormon wird bei den Betroffenen aufgrund einer charakteristischen Mutation im FBN1-Gen für Profibrillin (FBN1) nicht gebildet. Profibrillin ist das Ausgangsprodukt für Fibrillin, einem Hauptbestandteil der Mikrofibrillen. Genetische Untersuchungen von FBN1 in allen humanen Gewebetypen ergaben, dass es vor allem im weißen Fettgewebe exprimiert wird. Dieses ist bei Betroffenen stark reduziert. Bei der Spaltung von Profibrillin entsteht zusätzlich zu reifem Fibrillin ein weiteres Spaltprodukt – genau dieses Spaltprodukt fehlt Menschen mit Marfan-Lipodystrophiesyndrom. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um ein Proteohormon und erhielt seinem Entstehungsort entsprechend den Namen Asprosin (von griechisch άσπρος = weiß). Asprosin kann zu den Adipokinen gezählt werden. Das sind Verbindungen, die vom Fettgewebe gebildet und sezerniert werden und als Signalmoleküle wirken. Individuen mit Lipodystrophie haben eine etwa um 50 Prozent reduzierte Konzentration von Asprosin im Plasma. Untersuchungen zeigten, dass sich bei Menschen mit Insulinresistenz und Adipositas hingegen höhere Asprosin-Spiegel als bei nicht adipösen Kontrollen finden. Dabei korrelierten die Spiegel mit verschiedenen klinischen Parametern von Glukose- und Fettstoffwechselstörungen. Untersuchungen von Chopra an Zelllinien weisen darauf hin, dass reife Adipozyten Asprosin sezernieren, Präadipozyten hingegen nicht. Bislang ist unklar, ob das Fettgewebe die einzige bzw. die Hauptquelle von Asprosin ist, bei Mäusen wurde es auch in braunem Fettgewebe und der Muskulatur gefunden. Im Tagesverlauf schwanken die Spiegel von Asprosin, bei gesunden Menschen wird es unter Fastenbedingungen vermehrt ausgeschüttet, z. B. im Laufe der Nacht.
Das Team um Chopra führte an Mäusen Untersuchungen mit Asprosin durch, um dessen physiologische Wirkung und dessen mögliches therapeutisches Potential zu untersuchen. Sie fanden heraus, dass Asprosin in der Leber durch eine Erhöhung der intrazellulären cAMP-Spiegel und Aktivierung von Proteinkinase A die Glukoseproduktion stimuliert. Die Verabreichung von rekombinantem Asprosin führte bei Mäusen daher binnen Minuten zu einem Anstieg des Glukose-Plasmaspiegels, dem nach ca. 15 Minuten eine kompensatorische Hyperinsulinämie folgte. Nach etwa einer Stunde hatten sich die Konzentrationen von Glukose und Insulin wieder normalisiert. Über welchen Rezeptor die Wirkung in der Leber erfolgt, ist bislang unklar. Auf weitere katabole Hormone (Glukagon, Katecholamine und Glukokortikoide) hatte Asprosin keine Wirkung. Die Autoren vermuten deshalb, dass der Asprosin-Rezeptor unabhängig von denjenigen für Glukagon und Katecholamine ist, da spezifische Inhibitoren für Glukagon und Adrenalin keinen Effekt auf die durch Asprosin induzierte Glukoneogenese hatte.
In weiterführenden Experimenten wurden Mäuse genetisch so verändert, dass sie eine ähnliche genetische Struktur des FBN1-Gens hatten wie Personen mit dem Marfan-Lipodystrophiesyndrom. Die Asprosin-Spiegel im Plasma der Tiere waren um ca. 50 % reduziert, und sie waren im Gegensatz zu ihren Wildtyp-Genossen bei fettreicher Ernährung gegen Fettleibigkeit und Diabetes geschützt. Mäuse aus demselben Wurf, nach ca. 3 Monaten fettreicher Ernährung. Oben eine Maus mit genetisch verändertem FBN1-Gen, unten eine Wildtyp-Maus. © Clemens Duerrschmid Eine weitere Besonderheit dieser Tiere war, dass sie eine deutlich geringere Aktivität der sogenannten AgRP-Neuronen im Hypothalamus aufwiesen im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen. Diese Neuronen spielen eine zentrale Rolle in der Regulation des Hungers und Stoffwechsels. Asprosin induziert in den AgRP-Neuronen die cAMP-Produktion und aktiviert Proteinkinase A, eine Kaskade, die normalerweise über einen speziellen G-Protein gekoppelten Rezeptor in Gang gesetzt wird. Nakajima et al hatten gezeigt, dass eine Aktivierung dieser Rezeptoren von AgRP-Neuronen zu einem allmählichen und anhaltenden Anstieg der Nahrungsaufnahme führt. Dieser Effekt wurde auch bei den Mäusen beobachtet. Die Forscher spekulieren, dass Asprosin möglicherweise ebenfalls durch diesen Mechanismus den Appetit steigert. Eine intrazerebrale Injektion von Asprosin konnte die Aktivität der AgRP-Neuronen normalisieren. Wurde den genetisch veränderten Tieren subkutan Asprosin gespritzt, entwickelten sie einen guten Appetit. Auch genetisch unveränderte Wildtyp-Tiere hatten nach Verabreichung von Asprosin einen größeren Appetit, der etwa 24 Stunden lang anhielt. Bei einer Gabe über zehn Tage hinweg nahmen normale Tiere ebenfalls deutlich zu, ein Effekt, der durch fettreiche Ernährung noch potenziert wurde. Anorexigene, also den Appetit hemmende Neuronen im Hypothalamus arbeiten konträr zu den AgRP-Neuronen. Die Aktivität dieser anorexigenen Neuronen lässt sich durch Asprosin um etwa 85 % hemmen. Dass Asprosin die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, zeigten Versuche mit Ratten, bei denen das markierte Protein im Liquor binnen einer Stunde nach intravenöser Injektion nachweisbar war. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass das Hormon dort eine Wirkung entfaltet.
Könnten Patienten mit gestörter Glukoseregulation und Typ-2-Diabetes von einer möglichen Therapie mit dem Ziel Asprosin profitieren? Dieser Frage ging Chopra in zwei unabhängigen Mausmodellen für Insulinresistenz nach. Die Insulinresistenz wurde in dem einen Modell durch eine Diät-induzierte Fettleibigkeit und in dem anderen durch eine Leptin-Mutation erreicht. Die Injektion eines Asprosin-spezifischen monoklonalen Antikörpers führte in beiden Modellen innerhalb von Stunden zu einer akuten Senkung der Konzentration von Asprosin im Plasma, die sich binnen 24 Stunden wieder normalisierte. Durch die Blockierung der Asprosinwirkung sanken die hepatische Glukoseproduktion sowie der Insulin-Plasmaspiegel. Weitere Versuche mit adipösen Mäusen zeigten, dass eine Neutralisierung von Asprosin durch den monoklonalen Antikörper die Nahrungsaufnahme reduzierte, ohne den Energieverbrauch zu verändern. Die Tiere verloren signifikant an Körpergewicht. Professor Dr. Matthias Tschöp, Wissenschaftlicher Direktor des Helmholtz-Diabeteszentrums in München kommentiert die neutralisierenden Wirkung des Anti-Asprosin Antikörpers: „Schon nach einer Injektion mit diesem Mittel waren Blutzucker und Insulinwerte im Normalbereich. Eine längere Behandlung könnte die Insulinresistenz womöglich auf Dauer reduzieren.“ Ob es tatsächlich irgendwann möglich ist, Adipositas und Typ-2-Diabetes durch eine Blockade von Asprosin behandeln zu können, muss abgewartet werden. Tschöp fügt hinzu: „Zunächst sind weitere Experimente im Labor und an Tieren notwendig. Danach könnten erste klinische Tests begonnen werden.“