Apothekenkunden schätzen Nahrungsergänzungsmittel bei allen erdenklichen Wehwehchen. Wissenschaftliche Fakten interessieren sie dabei kaum, berichten Forscher. Das hat Folgen: Manche Präparate schaden mehr als sie nützen.
Im Jahr 2015 stieg die Nachfrage nach Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) um plus 11,8 Prozent auf 153 Mio. Packungen. Das berichtete IMS Health vor wenigen Tagen. An der Spitze standen Magnesium und Calcium, gefolgt von Eisen und weiteren Mineralstoffen. Quelle: IMS Helth Elizabeth D. Kantor, New York, wollte wissen, welche langfristigen Trends es gibt. Sie wertete jetzt Daten des repräsentativen National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) aus. Alle 37.958 Teilnehmer wurden zwischen 1999 und 2012 sieben Mal befragt. Rund 52 Prozent griffen im Beobachtungszeitraum zu NEM. Signifikante Änderungen hinsichtlich der Gesamtzahl an NEM fand Kantor nicht. Sie berichtet jedoch, dass sich die Präferenzen von Apothekenkunden geändert haben. Zwischen 1999/2000 und 2011/2012 verringerte sich der Einsatz diverser Multivitamin- und Multimineralpräparate von 37 auf 31 Prozent. Im gleichen Atemzug schluckten mehr Amerikaner Vitamin-D-Präparate (5,1 versus 19 Prozent). Supplemente mit Fischöl gewannen ebenfalls an Bedeutung (1,3 versus 12 Prozent). Experten schütteln nur den Kopf.
In einem Kommentar spricht Pieter A. Cohen aus Cambridge, Massachusetts, vom „Supplement-Paradoxon“: Obwohl im vergleichsweise langen Studienzeitraum viele Veröffentlichungen erschienen sind, haben Konsumenten darauf nur selten reagiert. Sie nehmen beispielsweise nach wie vor Chondroitinsulfat und Glucosamin ein, obwohl Wissenschaftler an der Wirkung zweifeln. In anderen Bereichen wie Vitamin C, Vitamin E oder Selen führt Cohen rückläufige Trends sehr wohl auf kritische Medienberichte zurück. „Angesichts des derzeitigen regulatorischen Rahmens scheint selbst eine hochwertige Forschung wenig Auswirkungen auf die Nutzung von NEM zu haben“, moniert der Wissenschaftler. Kritische Produkte wie rot fermentierter Reis oder Yohimbe-Pulver seien zwar vom Markt fast verschwunden. Allerdings kämen synthetische Stoffe mit schädlicher Wirkung neu hinzu. Bereits im Jahr 2014 warnte der Forscher vor Gefahren für Verbraucher. FDA-Ermittler zogen NEM nach Beobachtungen von Apothekern zurück. Im Labor fanden Chemiker illegale Substanzen wie Ephedrin oder Sibutramin. Kurze Zeit später waren die Präparate unter neuen Namen und mit verändertem Erscheinungsbild, aber mit kritischen Beimengungen, wieder erhältlich. Die Folge sind US-weit 23.000 Notfallbehandlungen pro Jahr.
Dass NEM bei bestimmten Grunderkrankungen durchaus einen Mehrwert bieten, ist immer wieder Thema der Forschung. Ein aktuelles Beispiel: Dongryeol Ryu aus Lausanne fand zumindest im Tiermodell einen neuen Ansatz zur Therapie der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu Schädigung von Mitochondrien. Schließlich steigt der Bedarf am Coenzym NAD+. Ein entsprechender Mangel konnte auch in Muskelzellen von Patienten nachgewiesen werden. Sowohl beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans als auch bei Mäusen mit Defekt im Dystrophin-Gen zeigte ein Derivat des Vitamins B3 wünschenswerte Effekte. Extrem hoch dosiertes Nikotinamid-Ribosid wirkte protektiv gegen Muskelschäden und verhinderte das Fortschreiten der Erkrankung. Kommerzielle Präparate sollen den Folgen des Alterns entgegenwirken, ohne dass es bislang geglückt ist, fundierte Beweise zu erbringen.
Ähnlich schlecht ist die Sachlage bei Chrom-III-Verbindungen. Professor Peter A. Lay aus Sydney warnt, Heilpraktiker würden auf Basis der orthomolekularen Medizin chromhaltige Verbindungen abgeben. Er verfolgte das Schicksal dreiwertiger Chromionen mit spektroskopischen Techniken. Als Ergänzung führte seine Gruppe Modellberechnungen durch. Lay zeigte, dass in einzelnen Bereichen von menschlichen Zellen reaktive Chrom-V- oder Chrom-VI-Spezies entstehen. Sie gelten als stark krebserregend. Bis weitere Daten vorliegen, warnt er Patienten, NEM mit Chromsalzen einzunehmen. Zink ist ebenfalls in die Schusslinie geraten. Eine Analyse der Cochrane Collaboration aus dem Jahr 2013 zeigte noch, dass Patienten mit Erkältungskrankheiten profitieren – sehr zur Freude von Herstellern. Die folgende Arbeit aus 2015 wurde wegen methodischer Mängel zurückgezogen. Eric P. Skaar aus Nashville, Tennessee, geht noch einen Schritt weiter und spekuliert über schädliche Effekte. Erhielten Mäuse Zink über ihre Nahrung, veränderte sich die mikrobielle Zusammensetzung ihrer Faeces. Davon profitierte in erster Linie Clostridium difficile. Bei der gleichzeitigen Gabe von Cefoperazon traten Infektionen mit dem Keim auf. Zur Übertragbarkeit auf Menschen äußert sich Skaar nicht. Allerdings berichtet das Robert Koch-Institut: „In Deutschland ergab eine Analyse der Entlassungsdiagnosen der Jahre 2000–2004 einen deutlichen Anstieg der C.-difficile-Infektionen von 7 auf 39 Fälle pro 100.000 stationärer Patienten, zwischen den Jahren 2004 und 2006 kam es noch einmal zu einer Verdoppelung.“ Gerade ältere, multimorbide Menschen sind betroffen. Diese Personengruppe setzt auch häufig NEM ein.