Neulich bin ich auf einen Blogbeitrag von Jürgen Dollase für FAZ.net aufmerksam geworden. Der Beitrag ist aus der Reihe „Dollase vs. Mensa“. Herr Dollase testet dort die Mensalandschaft deutscher Universitäten. In dem von mir erwähnten Beitrag geht es um die Uni Gießen und deren Umgang mit Schärfe in den Gerichten.
Zunächst einmal kritisiert Dollase, dass ein Veggie-Burger nach Fleisch schmecken soll, obwohl man ja gar kein Fleisch essen will. Er beschreib dies als „bizarre Abhängigkeit von bestimmten Geschmacksbildern“.
Zweitens, und das ist für meinen Betrag der entscheidendere Teil, geht er darauf ein, „[...] dass man offensichtlich mit irgendwelchen Grundstoffen und einer Menge von Aromen etwas herstellen kann, das wie Fleisch schmeckt, ohne Fleisch zu sein, [...]. Müssen dann überhaupt noch natürliche Grundstoffe Verwendung finden, die einen typischen Eigengeschmack haben?“
Er stellt folgerichtig die Frage: „Wie weit sind wir da eigentlich schon auf dem Kurs zu künstlicher Ernährung der anderen Art?“ Ich stelle mir außerdem die Frage: Wird man sich also in Zukunft dafür rechtfertigen müssen, dass man Fleisch essen will?
Aber, liebe Leser, man kann diesen Gedanken viel weiter spinnen und auf die Medizinethik ausweiten.
Von der Fleischethik zur Sterbehilfe
Am 06.12. war auf FAZ.net folgende Schlagzeile zu lesen: „Darf ein Alkoholiker Sterbehilfe bekommen?“. Dort wird der Fall eines 41-jährigen Familienvaters geschildert, der in den Niederlanden Sterbehilfe in Anspruch nehmen durfte. Voraussetzung für die Sterbehilfe ist in den Niederlanden, dass „der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist“.
Litt er zusätzlich an Depressionen, fragt man sich zwangsläufig. Was für ein fatales Signal senden wir also an alle Depressiven und Alkoholabhängigen! Als wenn man sich eines Übels entledigen wollte.
Dieser Eindruck passt aber in die Entwicklung: auf künstliche Ernährung folgt künstlicher Tod. Werden sich also Betroffene fragen müssen, warum tue ich meiner Umgebung dies noch an, wo der Tod doch so leicht möglich ist? Wenn erst mal der Damm gebrochen ist, wer wird noch beurteilen können oder wollen, wessen Leiden unerträglich ist oder nicht und ihm damit Sterbehilfe genehmigen oder verwehren?
Fangen wir von vorne an
Gehen wir zum Anfang des Lebens. Durch die Pränataldiagnostik, die eine Art Blaupause für „die neue Präventionskultur“ (FAZ vom 28.05.15) ist, wird enormer Druck auf werdende Eltern ausgeübt. Das Kind sollte natürlich fehlerfrei sein. Mangelnde Aufklärung der Ärzte und die Ausgabe von Wahrscheinlichkeiten, was Behinderungen angeht, stiften meist Unsicherheit und Verwirrung. Kinderreiche Familien dürfen sich, mit Verweis auf Verhütungsmöglichkeiten, sogar anhören, dass eine so große Kinderschar „doch heute nicht mehr notwendig gewesen wäre.“
Ähnlichen Satz sollen auch Eltern mit behindertem Kind gehört haben. Von freudiger Erwartung kann in Zeiten der Leistungsgesellschaft nicht mehr gesprochen werden. Zum Designerbaby ist es da gar nicht mehr weit. Da hätten wir also unsere Trias: künstliche Befruchtung, künstliche Ernährung und künstlicher Tod.
Woher kommt diese Entwicklung? Auch darauf hat der Beitrag von Jürgen Dollase eine Antwort. „Der Wald reagiert so, wie man in ihn hineingerufen hat. Das [sic] auffällig viele Leute nur einen solchen ‚gefälschten‘ Geschmack gut finden [...] ist bereits eine Folge industrieller Geschmackspolitik.“
Können wir uns vom Perfektionswahn befreien?
In unseren Fall könnten unter anderem die Meinungsmacher die Medien (Schönheitsideal, Utopie eines Lebens ohne Leiden) sein, die Wirtschaft (produktive Arbeitskräfte, nur wer leistet, ist was wert), die Krankenkassen, die mit Lobbyismus den Weg in der Politik unterstützen. Manche werden sagen, wie kommt man von Ernährung zu Leben und Tod. Aber dieser „Trend“, alles selbst machen zu wollen, verändern und verbessern zu wollen, wobei völlig ungewiss ist, ob das Ergebnis dann tatsächlich besser ist, setzt sich in der ganzen Gesellschaft fort.
Es ist noch Zeit sich vom „Perfektionswahn“ zu befreien und auf sein Herz zu hören. Sind die neuen Heilsversprechen einer Gesellschaft ohne Leiden, in der nur jemand zählt der etwas leistet, wirklich wahrhaftig?