'Verstehen Sie, ich bin nur die Violine. Wenn Sie das ganze Orchester hören möchten, dann müssen Sie mit Ihrem betreuenden Arzt sprechen, der kennt sich da besser aus. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass Rachen, Hals und Ohren gut aussehen. Genauer habe ich das hier auch noch für meinen Kollegen beschrieben.'
Langsam beginne ich Dr. Abahel, Arzt um die 60 mit buschigen Augenbrauen, markanter Brille und großer Nase, zu verstehen. Erst kam er mir grummelig und etwas unmotiviert vor, so schnell wie er die Patienten nacheinander abgearbeitet hat. Jetzt erklärt er mir, dass er die meisten von Ihnen schon kennt und es sich um Routineuntersuchungen handelt; die Anamnese darf also etwas weniger ausführlich ausfallen als im ersten Kontakt.
Nach fünf Patienten ist das Wartezimmer vorerst leer. Dr. Abahel lädt mich ein, mitzukommen. 'Wir haben gar keine mehr Patienten. Was machen wir nun? - Na komm schon, wir sind in Frankreich. Wir gehen Kaffee trinken!' In der Cafeteria gewöhnen wir uns aneinander. Es entwickelt sich ein interessantes Gespräch. Schnell sind wir bei Themen angelangt, von denen jeder Small-Talk-Experte wohl abraten würde: der Stolz der Franzosen, die nationale Geschichte unserer beiden Länder, Politik und Frau Merkel, Religion. Ein Kollege gesellt sich zu uns. Als er erfährt, wo ich herkomme, erzählt er freudestrahlend, dass er vor fast fünfzig Jahren auf einem Schüleraustausch in einer Kleinstadt ganz in der Nähe meiner Heimat war. Ich muss grinsen und berichte, dass ich in besagter Kleinstadt schwimmen gelernt habe. Der alte Herr ist nicht mehr zu bremsen und rezitiert Goethes 'Erlkönig'. Etwas schnell und nicht besonders verständlich, aber nahezu vollständig. Dann zückt er sein iPhone und öffnet Facebook. Ich bin verwirrt, will er mich etwa direkt als Freund hinzufügen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man bei älteren Generationen, die soziale Netzwerke für sich entdecken, da nie ganz sicher sein kann. Aber nein, er zeigt mir nur Fotos seiner Nichte, die gerade ein Erasmus-Semester in Rom verbringt. Er schmunzelt. Insgesamt habe er bei den ganzen bunten Bildern vor Sightseeing-Spots, auf Partys und mit internationalen Studenten nicht den Eindruck, dass sie besonders eifrig studiere... Stören tut ihn das aber keineswegs. Er sei schließlich auch mal jung gewesen und wisse, wie das so gehe.
Wieder in die Sprechstunde zurückgekehrt, gibt Dr. Abahel einige seiner Philosophien über den Arztberuf an mich weiter. Ganz wichtig: respektvoller Umgang mit allen Kollegen, von Reinigungskraft bis zum Chefarzt. Das hat er eindrücklich beherzigt, mir ist schon aufgefallen, wie er im Vorbeigehen Hände gedrückt hat und auf strahlende Gesichter gestoßen ist. Der nächste Punkt kommt mir etwas französisch vor: gut anziehen. Er argumentiert, dass der weiße Kittel den Arzt sehr kalt aussehen lasse und dadurch die Kleidung darunter umso besser, adretter und damit wärmer aussehen müsse. Sogar Schmuck empfiehlt er. 'Die Leute erwarten von uns, dass wir sie heilen, sie stellen einen hohen Anspruch. Ausgelatschte Schuhe und grauer Pullover machen da keinen guten Eindruck, wie sollen sie dich da wertschätzen?' Deshalb also die ganzen Assistenzärzte in Hemd und Anzugschuhen, ihre Kolleginnen mit Absätzen, Lippenstift und langen offenen Haaren. Und Uhren, Ringen und Ketten, die in Deutschland aus hygienischen Gründen ungern gesehen sind. Ich muss sagen, dass mir die französische Art, sich mehr schick als praktisch anzuziehen, am Anfang im Krankenhaus seltsam vorkam. Mit der Zeit gefällt sie mir aber immer besser. Obwohl ich nicht unbedingt mit Dr. Abahel einer Meinung bin, dass dadurch zwischen Arzt und Patient eine bessere Beziehung entsteht. Im Gegenteil finde ich, dass Statussymbole in Form von teuer Kleidung und einer dicken Uhr auch unangemessen viel Distanz schaffen kann. Naja, vermutlich ist am wichtigsten die echte Interaktion: Zuhören, Blickkontakt, Begegnung.
An seinem nächsten Patienten demonstriert Dr. Abahel eindrücklich diesen letzten Ratschlag: ein aufmerksamer und teilnahmsvoller Umgang mit den Patienten, ohne die berufliche Distanz zu überschreiten. Herr G. ist für die Sprechstunde bei Dr. Abahel, der ein absoluter Spezialist für bullöse Dermatose ist, aus der Bretagne angereist; um zwei Uhr morgens ist er aufgestanden. Dr. Abahel drückt Verständnis für die anstrengende Anreise und die Müdigkeit des Patienten aus, bevor er sich auf die Routineuntersuchung konzentriert. Es stimmt, lange dauert dieser persönliche Kontakt nicht, für den Patienten aber ist er unglaublich wichtig; er fühlt sich als Mensch wahrgenommen. Und der Arzt macht sich die Arbeit damit angenehmer und leichter; ein gutes Verhältnis führt zu mehr Offenheit und Kooperation auf Seiten des Patienten. Und nette Worte und ein Lächeln auf dem Gesicht tun allen Beteiligten gut.
Ich freue mich über diesen interessanten Vormittag. In der Klinik arbeiten vor allem junge Ärzte, viele Kollegen lassen sich irgendwann nieder und verschwinden in ihre Praxis. Daher ist es schön, einem Arzt der alten Schule über die Schulter zu schauen. Und im Gegenzug kann Dr. Abahel sogar noch ein bisschen von meiner Jugend profitieren: Ich zeige ihm, wie er das soeben angefertigte Video einer Endoskopie in sein Ärzte-Portal hochladen kann; mit USB-Stick und Computer tut er sich nämlich noch etwas schwer. Was für ein gelungener Generationenaustausch.
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