Endlich angekommen muss natürlich erst einmal die nähere Umgebung erkundet und Eindrücke gesammelt werden. Wer sind die neuen Kollegen? Wie ist der neue Arbeitplatz? Und vielleicht bleibt sogar noch etwas Freizeit übrig, bevor es richtig ernst wird.
Die kleine Stadt Dannevirke besteht hauptsächlich aus einer langen Hauptstraße, von der im Schachbrettmuster angelegte Querstraßen abgehen. Auf den ersten Blick wirkt die Stadt deutlich kleiner, als sie tatsächlich ist (ich fragte mich, wo wohl die restlichen 4000 von den angeblich 5000 Einwohnern stecken mochten), was einerseits an den sehr großzügig angelegten Grundstücken liegt und andererseits daran, dass in Neuseeland außerhalb von Ballungsgebieten selten mehrgeschossig gebaut wird. Geschweige denn, unterkellert. In der ganzen Standt gibt es kein Gebäude mit mehr als zwei Etagen. Der Grund ist ebenso naheliegend wie einleuchtend: Neuseeland ist eins der seismisch aktivsten Gebiete der Welt. Trotzdem wirkten die leicht gebauten kleinen Bungalows auf mich wie Feriensiedlungen.
Auch wenn man die Stadt in einer Stunde bequem komplett ablaufen kann, hat sie alles, was man braucht: Zwei Supermärkte, gleich mehrere Tankstellen, eine im Verhältnis zur Größe der Stadt beeindruckende Anzahl an Fast-Food-Läden und Cafés entlang der Hauptstraße, ein paar kleine Läden, in denen man so ziemlich alles kaufen kann, ein Schwimmbad, gleich drei Fitnesstudios und, natürlich, eine Apotheke und das kleine Krankenhaus, neben dem sich meine zukünftige Arbeitsstelle befand.
Obwohl ich erst in einer Woche anfangen sollte und auf meinem Plan zwei komplette Tag als "Einführung" vorgemerkt waren, konnte ich mich natürlich nicht beherrschen und schlich mich zur Praxis, um mich zumindest einmal vorzustellen.
Der Empfang war sehr herzlich, und obwohl man nicht mit mir gerechnet hatte, nahm sich Trudy, eine der Verwaltungsangestellten, sofort Zeit, um mich herumzuführen und allen vorzustellen.
So lernte ich dann endlich meine zukünftigen Kollegen kennen: Brian, Jane (gleichzeitig meine Superviserin), Martha, Pauline und Narae, alle mindestens so gespannt auf mich wie ich auf sie. Dann kamen die Pfleger, und spätestens ab dort konnte ich mir keine Namen mehr merken. Glücklicherweise tragen alle Praxisangestellten Namensschilder. Als sich Sabine, eine der Krankenschwestern, vorstellte, wurde ich bei dem kurzen Wortwechsel hellhörig... und versuchte es kurzerhand auf Deutsch. Sabine stutzte, lachte, und antwortete. Der schwäbische Akzent kam auch nach 27 Jahren in Neuseeland noch deutlich durch.
Überhaupt ist das ganze Team ziemlich international aufgestellt: Jane stammt aus Wales, Pauline aus England, Martha ursprünglich aus Ungarn, hat aber in den USA promoviert und Narae aus Korea. Und wie Sabine ihre schwäbischen kann auch Josy, die Rezeptionistin, ihre niederländischen Wurzeln im Gespräch nicht leugnen.
Ich war vor allem von der Größe und der straffen Organisation der Praxis beeindruckt. Auch wenn sie immer mehr in Mode kommen, sind größere Gemeinschaftspraxen in Belgien außerhalb der Großstädte immer noch die Ausnahme. Und auch wenn einige der größeren Praxen auch Krankenpfleger beschäftigen, bleiben die Aufgabengebiete doch strikt getrennt. Hier bekam ich den Eindruck, dass sich Pfleger und Ärzte systematisch zuarbeiteten, auch wenn ich auf den ersten Blick kein System erkennen konnte.
Trudy führte mich weiter in das nebenan gelegene kleine Krankenhaus und machte mich mit dem Rest der Belegschaft bekannt. Neben den den acht für die Allgemeinmediziner verfügbaren Betten gibt es einen separaten kleinen Flügel für die von den Hebammen geleitete Entbindungsstation, eine kleine Röntgenabteilung mit Röntgengerät und Ultraschall, ein paar Praxisräume für externe Spezialisten, die ein- oder mehrmals die Woche vom nöchstgelegenen Krankenhaus anreisen und Sprechstunde halten und Räume für die sogenannten Community Nurses und das Mental Health Team. Ich war -mal wieder- schwer beeindruckt. Vor allem die Atmosphäre im Team wirkte ungewohnt entspannt. Auch wenn in der Praxis reger Betrieb geherrscht hatte, war nichts von der Verbissenheit und dem latent gestressten Unterton zu spüren gewesen, den ich schon fast automatisch mit größeren Praxen und erst recht mit Krankenhäusern in Verbindung brachte.
Ich war gespannt, wie es sein würde, in einem so großen Team zu arbeiten.
Zuerst hatte ich aber noch ein paar freie Tage zur Verfügung, und in der (richtigen) Annahme, dass ich auch später noch genügend Gelegenheit haben würde, die Umgebung von Dannevirke zu erkunden, machte ich mich mit meinem Cousin über das Wochenende in den etwa drei Stunden entfernten Tongariro National Park auf.
Zwar war der Frühling in den Bergen noch nicht angekommen, und auch meine untrainierten Füße nahmen mir den Marsch über das Tongarira Alpine Crossing etwas übel, aber die Aussicht war etwas Muskelkater definitiv wert.
Das Crossing ist Teil eines 44km langen Rundwegs, des Tongariro Alpine Circuits, und kann separat gelaufen werden. Die immerhin 19km lange Strecke läuft zwischen den momentan ruhenden Vulkanen Mt Tongariro und Mt Ngauruhoe (auch bekannt als Mount Doom) durch eine Mondlandschaft aus erkalteten Lavafeldern im Herzen des Nationalparks. Vorbei an dampfenden Schwefelseen und Kratern mit kristallklarem und unfassbar blauem Wasser.
Solche Aussichten waren die ganze Reise schon fast wert, oder? Auf jeden Fall halfen sie ganz ordentlich gegen Heimweh.