Irgendwie hat es geklappt. Aber natürlich wieder auf die letzte Minute, ich lerne das nie ...
Im Sommer wurde es dann richtig Ernst. Bis dahin war es, trotz aller Vorbereitungen, immer noch nur eine Idee gewesen, eine Art Test, um sich selber zu beweisen, was man könnte, wenn man wollte. Und dann kamen die ersten Interviews.
Das erste Gespräch führte ich mit Jacintha. Es ging hauptsächlich darum, meine Motivation zu klären. Sollte das für mich eine einmalige Sache sein? Für wie lange wollte ich bleiben? Hatte ich vor, vielleicht komplett auszuwandern? Woah. So weit hatte ich gar nicht denken wollen. Ich erklärte, dass ich keine festen Pläne für meine Zukunft hatte, mich aber vorerst nicht über sechs Monate hinaus festlegen wollte. Sechs Monate traute ich mir zu, durchzuhalten, auch wenn es furchtbar werden sollte, aber ich wollte keine Versprechen machen, von denen ich nicht sicher war, dass ich sie halten konnte. Jacintha verstand.
Die Qual der Wahl
Sie schickte mir eine Auswahl an Angeboten für Temporary Placements zu. Mir wurde erklärt, dass ich als nicht im Commonwealth ausgebildeter Arzt noch eine Weile mit Superviser arbeiten würde müssen, also kamen nur Ärztegemeinschaften in Frage. Insgeheim war ich erleichtert, ganz allein die Verantwortung für eine Praxis in einem mir unbekannten System zu übernehmen, war vielleicht doch etwas zu viel für den Anfang.
Die ausgewählten Praxen lagen alle in ländlichen Gegenden, teilweise mit absolut überwältigendem Panorama. Einige waren privat, andere öffentlich finanziert, einige versorgten kleine, lokale Krankenhäuser mit oder hielten einen PRIME-Contract. Diese Abkommen sind gedacht, um die teilweise sehr weiten Anfahrtswege zu den nächsten Krankenhäusern zu überbrücken: wenn der gerufene Notarzt zu lange braucht, wird der nächstgelegene Hausarzt mit einem ausgebildeten Pfleger geschickt, um die Erstversorgung zu beginnen. Und zwar nicht nur für internistische Notfälle, sondern auch zu Unfällen im Straßenverkehr und bei Katastrophenalarm. So langsam dämmerte mir, warum der ALS-Kurs gewünscht wurde ...
Ich versuchte, eine Auswahl zu treffen, so gut das anhand von Stellenausschreibungen und Google-Recherchen möglich war. Ein paar Tage später wurde ich zum ersten Skype-Interview meines Lebens eingeladen, um ein Uhr morgens, MEZ.
Was macht eigentlich … eine Praxismanagerin?
Laut der erhaltenen Mail sollte das Interview mit Charlotte, der Praxismanagerin, gehalten werden. Unter dem Titel konnte ich mir nicht viel vorstellen, und weitere Recherchen im Netz ergaben, dass Charlotte wohl keine Ärztin, sondern eher mit organisatorischen Aufgaben betreut war. Den Abend bis zum Interview verbrachte ich damit, soviel wie möglich über die Praxis herauszufinden und sicher zu stellen, dass meine Webcam weder meine Küche noch meine Bücherregale im Blick hatte und mein Skype-Avatar ein halbwegs seriöses Bild von mir zeigte.
Das Interview verlief erstaunlich zwanglos. Eine der Ärztinnen aus dem insgesamt sehr jungen Team gesellte sich spontan dazu, man erklärte mir den Aufbau der Praxis und die Zusammenstellung des Teams, Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, erkundigte sich nach meinen Plänen, meinen Hobbies und schließlich, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihnen zu arbeiten. Eher daran gewohnt, potentielle Arbeitgeber erst einmal von meinen Fähigkeiten überzeugen zu müssen („Was können Sie, dass uns dazu bringen könnte, Sie anderen Bewerbern vorzuziehen?“), war ich nicht ganz sicher, was in dem Interview genau von mir erwartet wurde, aber ich sagte zu. Leider wurde mir später ein anderer Bewerber vorgezogen, der sich für eine längere Zeit verpflichtet hatte. Fair enough, ich hatte nicht vorgehabt, mit falschen Versprechungen anzufangen. Aber ich hätte gerne mit diesem Team gearbeitet.
Weiter geht's
Zeit zum Trauern blieb nicht, das nächste Interview stand einige Tage später an, diesmal telefonisch. In einer Konferenzschaltung sprach ich mit Brian, Sharon und Jane, Ärzten und Verwaltungsratmitgliedern einer anderen Praxis. Ich hatte große Mühe, den wechselnden Stimmen am Telefon zu folgen (Englisch fließend, von wegen ...) und stotterte mich irgendwie durch das Interview. Und bekam, zu meiner großen Überraschung, eine Zusage.
Natürlich ging dann in den letzten zwei Monaten noch alles Mögliche schief. Ich musste meinen IELTS-Test wiederholen, weil meiner über zwei Jahre her war und der Medical Council einen aktuellen verlangte. Das nächste mögliche Datum für einen ALS-Kurs nach internationalem Standard lag zwei Wochen vor meiner geplanten Abreise. Die Wartezeiten für die medizinische Untersuchung, die ich für das Visum benötigte, waren extrem lang, und beinhalteten eine Reise nach Brüssel, da die einzigen dafür zertifizierten Ärzte Belgiens natürlich nicht irgendwo im Hinterland arbeiten. Der Medical Council tat sich dann doch recht schwer mit meinen Diplomen und verlangte noch eine ganze Reihe von Erläuterungen und zusätzlichen Dokumenten, unter anderem zwei weitere Beurteilungen von Kollegen. Natürlich alles übersetzt, und am besten gestern. Interessante Aufgaben, vor allem, wenn man sie an einem Freitagnachmittag bekommt ...
Auch im privaten Sektor gab es unerwartete Entwicklungen. Durchaus positiver Natur, aber DAMN! so ein grottenschlechtes Timing!
Im schlimmsten Fall wird's ein langer Urlaub
Der Druck war massiv, weil ich niemandem eine definitive Antwort geben konnte. Meine Kollegen in Belgien wollten natürlich wissen, ob sie nun meine Stelle neu besetzen mussten, die Praxis in Neuseeland wartete auf die endgültige Zusage, mein Vermieter wollte wissen, was denn nun mit der Wohnung würde ... Letztenendes entschloss ich mich, einfach zu planen, als würde alles funktionieren. Im schlimmsten Fall würde ich erstmal einen langen Urlaub in Neuseeland machen und wieder zu meinen Eltern ziehen, bis ich einen neuen Job gefunden hätte.
Und es wurde richtig knapp. Zu guter Letzt sprang auch noch der Kommilitone, der meine Wohnung hatte übernehmen wollen, ab und ließ mir zwei Wochen, um neue Nachmieter zu finden (was überraschenderweise keine drei Tage dauerte). Ich war fix und fertig. Aber meine Wohnung war vermietet, mein Arbeitsvertrag nicht verlängert und meine Stelle neu besetzt. Zum Weglaufen war es zu spät.
Zwei Wochen vor meinem gebuchten Flug kam dann doch endlich die Mail vom Medical Council: ich wurde als Arzt in Neuseeland zugelassen!
Nur noch schnell das Arbeitsvisum ...
Das letzte, was fehlte, war das Arbeitsvisum. Glücklicherweise kann man derartige Visa online beantragen, aber die Bearbeitungszeit liegt bei durchschnittlich 25 Tagen für ein Skilled Migrant Visum, wie ich es wollte. Ich verbrachte also wieder ein paar Stunden in der Warteschleife der Botschaft und bekniete die (wirlich sehr freundlichen) Mitarbeiter in der Hoffnung, es irgendwie beschleunigen zu können. Man versprach, sich damit zu beschäftigen, aber könne keine Versprechungen machen.
Und dann, vier Tage vor meinem Abflug, doch noch: "Congratulations! Your application status has been updated to: accepted."
Ich würde also tatsächlich in Neuseeland arbeiten. Ich. Wow.