Ich bin in der Notaufnahme. Heute sitze ich keine Sekunde. Sogar die Briefe schreibe ich im Stehen. Mein kleines Geheimnis zwingt mich zu häufigen notdürftigen Pausen. Essen, trinken, Toilette. Essen, trinken, Toilette, die ganze Zeit. Es nervt, aber ich liebe diese Pausen. Sie halten mich auf. Die Schwangerschaft zwingt mich, zu atmen.
Jedoch machen sie die wartenden Patienten unangenehmer, ungeduldiger, ungestümer, ungehaltener, unfreundlich und aggressiv. Es ist mal wieder Stadtfest.
Wenn ich es recht bedenke, war heute lediglich ein Patient nüchtern. Und der war 5. „Nein, Frau Mutter, die Handflächen ihres quengelnden, viel zu dicken Sohnes, der in einem Superman-Kostüm steckt, sind nur aufgeschürft.“ Ob ich wohl Schokolade für ihn habe, weil er mir so doll die Händchen hinstreckt? „Nein, Sie haben ihm bereits ein Twix und eine Milchschnitte gegeben, damit er mir seine Hände zeigt.“
Der Rettungsdienst hat sich angekündigt. Super. Können wir den restlichen wartenden Besoffenen sagen, dass sie noch länger warten dürfen. Der Patient wurde zusammengeschlagen, Nase und Jochbein sind kaputt, unzählige Prellmarken und Schürfwunden. Er sagt, in der U-Bahn-Unterführung hätten sie ihn zu fünft erwischt. Er ist freundlich, gepflegt, hat ein Hemd an und schicke Schuhe. Da er nüchtern ist, ein Lichtblick der heutigen Konversation.
Als er sein Hemd auszieht, finde ich Prellmarken auf dem Rücken, später stelle ich fest, dass zwei Rippen gebrochen sind. Er hat sich außerdem an der rechten Hand den fünten Mittelhandknochen gebrochen. Eine typische „Boxer-Fraktur“. Er ist Rechtshänder. Und auf seinem Rücken ist ein Hakenkreuz tätowiert. Sein Geheimnis.
Ich sehne mich plötzlich nach der Behandlung eines Besoffenen.