Mein Patient Herr Henry duzt mich. Aufgrund seiner Krankheitsgeschichte ist er seit vier Monaten alle paar Tage bei uns. Eigentlich könnte er sich gleich einmieten. Würde er sowieso gerne. Ich hätte das nicht gern. Weder das Einmieten, noch das Duzen. Das habe ich ihm ungefähr 100 Mal gesagt.
Ein Autoritätsproblem hatte ich, trotz meines jugendlichen Aussehens, noch nie. Meine freundliche, aber doch sehr bestimmte Art, hält die meisten Patienten auf einer gewissen notwendigen Distanz.
„Herr Henry, ich bin Frau Dr. Unfallchirurgin, ich möchte Sie bitten, bei dieser Umgangsform zu bleiben. Ich bin nicht ihre Freundin, ihre Mutter oder Schwester.“
„Aber ich duze die Krankenschwestern auch.“
„Bitte bleiben Sie beim Sie. Für unser Arzt-Patienten-Verhältnis halte ich das für wichtig.“
Distanzlosigkeit ist schwer zu ertragen
Herr Henry ist mir unangenehm. Er fühlt sich viel zu wohl hier im Krankenhaus, behandelt die Krankenschwestern wie seine besten Freunde und hat kein Gefühl für Intimität oder Abstand. Bei der letzten Visite hat er die Toilettentüre geöffnet, als er hörte, dass die Visite kommt. Er wollte mit mir sprechen, während er auf der Toilette saß. Ich nicht.
Er ist 30 Jahre alt. Allerdings wirkt er oft hilflos wie ein Zweijähriger. Ein anderes Mal ist er wieder so abwesend, dass ich nicht weiß, ob er mich überhaupt hören kann. Dann wieder brüllt er völlig unverständlich eine der Krankenschwestern an, warum es heute Kaffee statt Tee gibt. Völlig unberechenbar.
Seine Bekannten wirken wie Drogendealer und sind es wahrscheinlich auch. Er behauptet, es sei nur Alkohol, Nikotin und etwas Gras. Wer’s glaubt. Mein Instinkt rät mir, den Abstand so groß wie möglich zu halten. Die Krankenschwestern sind geteilter Meinung. Die einen haben Angst vor ihm, die anderen bemuttern ihn wie ihr eigenes Kind.
„Wir sind gleich alt, sollten wir uns nicht doch duzen?“
„Du bist aber sicher ähnlich alt wie ich.“ – „Selbst wenn das stimmt, ich bin Frau Dr. Unfallchirurgin und jetzt kommen wir auf die morgige OP zu sprechen. Wir müssen noch einmal die Wunde säubern und wahrscheinlich wieder einen Schwamm einlegen. Warum die Wunde sich immer wieder neu entzündet, ist uns noch nicht klar, aber so wird es nicht abheilen. Also fangen wir leider noch einmal von vorne an. Sie kennen das Prozedere. Säubern, für einige Tage Schwamm einlegen, erneut säubern und wenn die Wunde sauber aussieht, können wir Haut vom Oberschenkel transplantieren, um die Wunde zu verschließen.“
„Geht klar. Wo muss ich unterschreiben? Ich geh jetzt erst mal Rauchen. Ach, operierst du das morgen?“ Ich gebe auf. Krankenschwester Marianne ist mit auf Visite. Die hält ihm jetzt erstmal einen Vortrag übers Rauchen, Wundheilung und den passenden Anstand. Hoffen wir, dass es hilft.
Am Abend davor ...
Warum die Wunde nicht heilen will, leuchtet mir auch in der nächsten Woche nicht ein. Hier unter stationärer Aufsicht scheint alles nach Plan zu laufen. Am Abend vor der anstehenden Hauttransplantation gehe ich noch einmal zu Herrn Henry. Er sitzt auf dem Balkon und reibt sich die Blumenerde aus den Blumenkästen in die Wunde. Als er mich sieht, senkt er den Blick und ich verschränke die Arme. Das wird wohl ein längeres Gespräch. Ein Glück gibt es eine psychiatrische Abteilung in unserem Hause.