Es ist Geisterstunde. Dreizehn Uhr dreißig. Ich sitze am Schreibtisch und tu so, als würde ich arbeiten. Das Mittagessen liegt wie ein Ziegelstein im Magen, obwohl es nur ein matschiges Brötchen war: Eines von den überteuerten und eigentlich kaum genießbaren belegten Brötchen vom Fressalienstand in der Eingangshalle.
War eine Fehlentscheidung, weiß ich, aber für ein ordentiches Mittagessen in der Kantine war mal wieder keine Zeit. Abgesehen davon würde Schnitzel mit Knusperkroketten und gemischtem Salat ja noch schwerer im Magen liegen. Wobei das Brötchen, schnell zusammengekaut am Schreibtisch zwischen zwei Arztbriefdiktaten, einem Aufnahmebefund und zwei EKGs, heruntergespült mit zwei Tassen Kaffee auch nicht besser ist. War eine Fehlentscheidung, aber das sagte ich schon.
Jetzt sitze ich vor einer geöffneten Krankenakte und blättere darin herum. Keine Ahnung, was drinsteht, nichts, rein gar nichts davon erreicht mein Hirn, auch wenn ich die Augen krampfhaft offen halte. Dieser Zustand wird jetzt, wie immer, ungefähr eine Stunde lang andauern, dann kehren die Lebensgeister langsam zurück und kurz vor halb vier werde ich mein Pensum dann abgearbeitet haben.
Jetzt ein halbes Stündchen schlafen ...
Hinter mir steht die Untersuchungsliege. Jetzt ein halbes Stündchen lang die Beine ausstrecken, das Handy auf leise stellen und einfach mal kurz ganz sanft dahinschlummern. In einer halben Stunde wäre ich wieder fit. Die drei ausstehenden Entlassungsbriefe wären rasch diktiert und den Stapel EKGs hätte ich ruck, zuck befundet. Innerhalb von einer Stunde könnte ich locker fertig sein.
Noch besser wäre es natürlich, wenn man statt der ungemütlichen Untersuchungsliege – die übrigens seit Monaten unbenutzbar ist, weil sich darauf die Patientenakten stapeln – ein bequemes Kuschelsofa anschaffen würde. Oder gar ein gemütliches schallgedämpftes Zimmerchen nebenan, mit flauschigem Teppich und sanfter Lounge-Musik? Wäre mal spannend zu erfahren, was die Geschäftsführung zu einem diesbezüglichen Antrag sagen würde.
Ist ja eigentlich in ihrem Interesse: eine halbe Stunde Schlaf gegen zwei Stunden unproduktives Mittagsloch. Spart auf Dauer eine Menge kreativer Arbeitszeit. Und wenn man das in Geld umrechnen würde ... kein schlechter Deal für die Klinikleitung! Und dass man durch Übermüdung und Schlafmangel auf Dauer nicht nur die eigene Gesundheit ruiniert, sondern auch die Patienten gefährdet, ist ja schließlich mittlerweile allgemein bekannt, auch in der Chefetage.
Leider sind wir nicht in Japan
Aber natürlich weiß ich genau, wie die Antwort lauten wird. Wir sind ja schließlich nicht in Japan. Da gehört das Schläfchen zwischendurch – Inemuri genannt – zum guten Ton. Was allerdings oft mit der Erwartung zu tun hat, dass so lange gearbeitet werden muss, bis einem buchstäblich die Augen zufallen, sobald für einen kurzen Moment mal keine volle Konzentration erforderlich ist – egal ob man sich gerade in der U-Bahn befindet oder in einem Meeting.
Ich schaue auf die Uhr. Kurz vor zwei. Oh, heute ist ja Röntgenbesprechung, hätte ich fast vergessen! Ich trinke meinen Kaffee aus, begebe mich zwei Etagen nach unten in die Radiologie und betrete den abgedunkelten Demonstrationsraum.
Der Radiologe erklärt mit sonorer Stimme die Befunde. Die Luft ist zum Schneiden und in der letzten Reihe sitzt Kollege Matze, die Augen fest geschlossend und praktiziert Inemuri.
Also, geht doch! Auch in Europa.
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