'Ach, die waren aber nett.' Oberarzt Christian, der teils einen etwas mürrischen und unausgeglichenen Eindruck macht (Assistenzärztin Marion hat mir gestern beim Mittagessen anvertraut, ihrer Meinung nach brauche er dringend eine 'meuf' zu Deutsch Tussi, Mädel, Frau) grinst spitzbübisch.
Wenn er wüsste, dass die beiden Damen, die gerade gemeinsam in seiner Sprechstunde waren, gerade das gleich über ihn gesagt haben. Ob Ärzte auch mal Patientinnen haben, die sich wie Groupies verhalten und ihnen ihre Nummer zuschieben?
Als Patientinnen mag ich die beiden Frauen kaum bezeichnen. Die Freundinnen sind 33 Jahre alt und haben beide das gleiche Problem: Ein zu großes Loch in einem Ohrläppchen, das das Tragen von Ohrringen unmöglich macht. Bei einer Dame auf ein brutales Manöver des Vaters zurückzuführen, der ihr als Zehnjährige einen eingewachsenen Ohrstecker herausriss, bei der anderen auf das langjährige Tragen sehr großer und schwerer Ohrgehänge.
Gestern im OP konnte ich mir vorstellen, woher die Vermutung Marions kam, Christian sei privat nicht ganz im Gleichgewicht; er war relativ wortkarg und ungeduldig, statt seiner Assistentin die Entnahme der Mandeln in Gänze zu überlassen, übernahm er zweimal recht schnell selbst das Ruder. Und für das Richten der Nase eines Patienten, auf den wir alle fast eine Stunde gewartet hatten, hielt er es nicht für notwendig, uns aus dem Arztzimmer zu holen, so dass wir den großen Knacks - die Begradigung der Nase, das Spannende des ansonsten sehr kurzen Routineeingriffs - verpassten. Doch heute lerne ich ihn von einer anderen Seite kennen: Ich sehe Christian als einen überaus verständnisvollen Arzt, der seine Patienten ausreden lässt, auf ihre Bedenken und Sorgen geduldig eingeht, und mir mit Hilfe von Skizzen operative Eingriffe erklärt oder - als Auffrischung, dabei ist das eigentlich Wissen aus dem ersten Studienjahr - die Anatomie der Nasennebenhöhlen. Für die unangenehme Fibroskopie, bei der er über eine Nasensonde einen Blick auf die Stimmlippen der Patienten wirft, benutzt er stets ein lokales Betäubungsmittel, um den Patienten den Eingriff so angenehm wie möglich zu gestalten. Eigentlich Standard, aber ich habe es auch schon anders erlebt in den letzten Wochen. Alles in allem ist Christian heute den Patienten gegenüber ein toller Arzt.
Nun also zwei kleine Schönheits-OPs. Ich bin etwas überrascht, dass die Korrektur eines Ohrläppchens in Gänze von der Krankenkasse übernommen wird. Irgendwie hätte ich erwartet, dass so etwas betrachtet wird wie ein Tattoo, aus dem man herauswächst: selbst verursachte Jugendsünden, für deren Beseitigung der Patient bei Bedarf selbst aufkommen muss. Aber wer weiß, vielleicht ist auch das im sozialen Frankreich eine Kassenleistung? Google sagt nein. Da hört die Liebe scheinbar auf; wäre ja irgendwie auch noch schöner.
Die beiden Frauen haben das Untersuchungszimmer sehr zufrieden verlassen. In ein paar Wochen werden sie erneut gemeinsam das Krankenhaus aufsuchen, um sich für den ambulanten Eingriff vertrauensvoll den Händen des sympathischen Mediziners anzuvertrauen. Es sind die menschlichen Begegnungen, die die aus fachlicher Sicht sonst oft langweilige Sprechstunde aufwerten in diesem schönen Beruf.
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