Madame P. zittert. Nervös kramt sie in einem ganzen Stapel an Unterlagen. Arztbriefe, Röntgen- und MRT-Bilder, Rezepte. Aber den Brief des Hausarztes, nach dem Dr. Abahel gefragt hat, findet sie nicht.
Eigentlich geht es nicht um Madame P., sondern um ihren Mann. Beide sind um die 70 Jahre alt, Monsieur P. leidet unter stark erhöhtem Speichelfluss. Dieser macht es ihm schwer, zu essen, zu schlucken und zu sprechen. Deshalb hat Madame P. ihn heute in die Sprechstunde der HNO-Klinik gebracht. Zusätzlich hat ihr Mann starke Gang- und Koordinationsstörungen. Aber irgendwie geht es doch auch um Madame P. Die alte Dame steht vollkommen neben sich, deutlich ist ihr anzusehen, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch ist. Sie spricht leise, verhaspelt sich erst, verbessert sich dann, ihre Bewegungen sind fahrig und nervös.
Zum zweiten Mal in der HNO
Dr. Abahel hat die Problematik sofort erfasst; das Ehepaar ist dringend auf Unterstützung angewiesen. Monsieur P. auf ärztliche Betreuung und Madame P. darauf, dass ihr die Verantwortung für ihren erkrankten Mann abgenommen wird. Trotzdem ist der Arzt etwas genervt. Das Paar sucht nun schon zum zweiten Mal Hilfe in der HNO. Wie sein Kollege kann Dr. Abahel nach der Untersuchung jedoch nur das bestätigen, was er schon auf den ersten Blick vermutet hat: Die Beschwerden seines Patienten sind neurologischen Ursprungs. Er, als Facharzt für Hals, Nasen und Ohren, kann keine Auffälligkeiten feststellen, die er behandeln könnte.
Eine von Burnout bedrohte Rentnerin
Madame P. hat mittlerweile doch einen Arztbrief gefunden. Nicht den des Hausarztes, sondern den des ersten HNO-Arztes. Sie ist den Tränen nahe, als sie versucht, das handgeschriebene Papier, das in mehrere Stücke zerrissen ist, zusammenzupuzzlen und Dr. Abahel vorzulesen. Ihr Hausarzt wollte es wegschmeißen, sie hat es dennoch wieder in ihren dicken Dokumentenstapel aufgenommen. In der Hoffnung, es könnte ihr entgegen der Einschätzung ihres Hausarztes dabei helfen, ihren Mann von seinem Leiden zu erlösen; sie klammert sich an die Krankenakte ihres Mannes wie an einen rettenden Anker.
Ein Termin bei einem Neurologen ist für Anfang März vorgesehen. Dr. Abahel ist wütend auf seinen Hausarztkollegen, der sich ganz offensichtlich nicht angemessen um das Paar kümmert. Madame P. kann nicht noch einen weiteren Monat warten, ansonsten könnte es gut sein, dass sie selbst ebenfalls zur Patientin wird. Vor sich sieht er eine von Burnout bedrohte Rentnerin.
Was ist da falsch gelaufen?
Ich werde nachdenklich, auch aus meiner Sicht ist hier sehr viel falsch gelaufen. Hausärzte haben in Frankreich den Ruf, dass sie nach dem Concours – der großen Prüfung am Ende des Studiums – nicht gut genug waren, um etwas anderes zu machen. Sicherlich mag es weiterhin Mediziner geben, die sich bewusst für diesen Weg entscheiden. Andererseits führt die streng hierarchische Verteilung der Facharztausbildungsplätze dazu, dass sich diejenigen, die höher platziert sind, kaum dazu entscheiden werden, ihren guten Schnitt „zu verschenken“ um Allgemeinmediziner zu werden, denn „damit kannst du doch auch was anderes machen“.
Ein bisschen erinnert mich das System an die Unterstellung in Deutschland, Abiturienten mit 1,0er-Abi würden Medizin nicht unbedingt aus Interesse am Beruf studieren, sondern „weil sie es eben können“. In der Allgemeinmedizin sind der Kontakt zum Patienten und menschliche Fähigkeiten von besonders großer Wichtigkeit. Neben dem Treffen der richtigen Entscheidungen, dem Unterscheiden zwischen „kleinen“ Krankheiten und ernsten Gesundheitsproblemen sowie dem Verweis an den richtigen Facharztkollegen ist es nicht einfach, Patienten emotional angemessen zu betreuen. Wenn jemand, der eigentlich Chirurg werden wollte und sich eher für die Anatomie als die Psyche des Patienten interessiert, zum Hausarzt wird, ist das sowohl für ihn als auch für seine Patienten die denkbar ungünstigste Lösung. Ist die Unachtsamkeit oder das fehlende Engagement des Hausarztes von Ehepaar P. möglicherweise auf diese Themen zurückzuführen? Denkbar ist es zumindest.
Warnung vor zu viel Mitgefühl
Dr. Abahel warnt mich davor, zu sehr mit den Patienten mitzufühlen. Hier an der richtigen Stelle die Grenze zu ziehen, ist generell nicht einfach. Fakt ist, dass es in diesem Fall legitim von Dr. Abahel ist, sich nicht weiter einzumischen. Er legt Madame P. ans Herz, bei ihrem Hausarzt für einen früheren Termin beim Neurologen zu kämpfen. Er als HNO-Arzt, der den Patienten einmal zu Gesicht bekommen hat und ihn nicht weiter betreut, ist nicht dafür verantwortlich, sich darüber hinaus zu kümmern. Gleichzeitig habe ich große Zweifel daran, dass Madame P. noch viel Kraft hat, zu kämpfen. Ein Teil von mir findet, Dr. Abahel hätte in diesem Fall vielleicht doch selbst zum Telefonhörer greifen sollen, um Madame P. zu unterstützen. Doch nun wird es auf ihren Hausarzt ankommen und darauf, ob er die Situation endlich richtig erkennt und sich für seine Patienten einsetzt. Oder nicht. Verantwortung in der Medizin. Zum Blog geht es hier.