Die alte Dame hat Schmerzen. Ursache ist ein Harnverhalt – und deshalb braucht sie unbedingt einen Blasenkatheter. Aber sie will nicht. Sie wehrt sich. Gutes Zureden hilft nicht. Die Patientin ist dement. Sie schreit und sie kämpft – so wie sie damals, vor mehr als siebzig Jahren, gekämpft hat ...
Frau Bedomeit schreit. Das ist über den ganzen Stationsflur zu hören, obwohl die Zimmertür natürlich geschlossen ist.
„Was ist denn los?‟, fragt Kalle.
„Hörst du doch,‟ sagt Kollege Martin, „Die Olle brüllt wie am Spieß!‟
Kalle runzelt die Stirn. „Gibt's ’nen Grund?‟
Martin grinst sein fiesestes Grinsen. „Na, die will halt nicht!‟
Kalle bewegt sich langsam in die Richtung der Schallquelle. „Was will die nicht?‟, insistiert er.
„Frau Bedomeit hat einen Harnverhalt‟, berichtet Sarah. „Die Schwestern sind gerade dabei, ihr einen Katheter zu legen!‟
Die Patientin hat starke Schmerzen
Das erklärt Einiges. Wenn die volle Blase nicht mehr entleert werden kann, dann kann das sehr schmerzhaft sein. Die gute Nachricht ist: die Schmerzen lassen meist unverzüglich nach, sobald man einen Blasenkatheter gelegt hat und der Urin abfließen kann. Allerdings muss man diesen Katheter erst einmal legen – und das ist nicht immer einfach. Das kann entweder anatomische Ursachen haben oder aber direkt mit den Gründen, die zum Harnverhalt geführt haben, verknüpft sein: zum Beispiel Verletzungen, Tumoren oder Entzündungen der unteren Harnwege. Unter solchen Umständen kann es für den Patienten sehr schmerzhaft sein, einen Katheter gelegt zu bekommen.
Schmerzmittel helfen da leider auch nicht immer weiter. Hinzu kommt, dass Frau Bedomeit sowieso keine einfache Patientin ist. Sie ist fast neunzig Jahre alt und leidet schwer an Alzheimer-Demenz mit häufigen Verwirrtheitszuständen und ständiger Unruhe.
Mit vereinten Kräften geht es dann
Kalle betritt das Zimmer. Sarah und ich folgen ihm. Vier Pflegekräfte haben sich um Frau Bedomeits Bett versammelt, drei davon sind ausschließlich damit beschäftigt, sie festzuhalten: der muskulöse Pfleger Marvin hat beide Arme fest im Schraubstock-Griff, lehnt sich gegen ihren Oberkörper und versucht, beruhigend auf sie einzureden. Zwei Schwestern haben je ein strampelndes Patientenbein unter Kontrolle und Schwester Paula fuhrwerkt handschuhbewehrt im Genitalbereich der Patientin herum.
Sarah schüttelt den Kopf. „Himmel, das sieht ja aus wie ...‟
Kalle wirft ihr einen strengen Blick zu. „Sag’s nicht!‟
Sarah ist still. Ein weiterer Blick von Kalle – wir haben verstanden und gehen zurück ins Stationszimmer. Kurz darauf folgen uns drei der vier Pflegekräfte. Fünf Minuten später kommen Kalle und Schwester Paula.
Damals auf der Flucht ...
„Habt ihr’s der Ollen endlich besorgt?‟, feixt Martin.
„Das ist gar nicht lustig!‟, zischt Kalle, während er sich einen Becher Krankenhauskaffeeplörre eingießt. Martin senkt den Blick und verlässt verdächtig schnell den Raum.
„Traurige Geschichte!‟, sagt Kalle und schaut in die Runde. „Wollt ihr’s hören?‟ Sarah nickt.
„Frau Bedomeit stammt aus Ostpreußen!‟, beginnt Kalle und setzt sich, bevor er fortfährt: „Damals, gegen Ende des Krieges, mussten sie fliehen. Die Geschichten kennt man ja, im Planenwagen durch zerbombte Landschaften. Immer wieder wurde man von Tieffliegern beschossen und alle Nase lang von irgendwelchen Soldatentrupps überfallen. Was man noch hatte, wurde einem abgenommen. Frau Bedomeit war damals gerade mal sechzehn Jahre alt und muss wohl recht hübsch gewesen sein ...‟
Kalle schaut in die Runde, ohne den Satz zu beenden.
Gesprochen hat sie darüber nie
„Frau Bedomeit hat niemals und mit niemandem darüber gesprochen, was da passiert ist. Im Sommer 1945 wurde ihre Tochter geboren. Frau Bedomeit hat sie allein großgezogen, hat niemals geheiratet und – wie die Tochter sagt – auch nie mehr irgendwas mit einem Mann angefangen. Jetzt wird sie bald neunzig. Und heute wurde sie wieder einmal festgehalten, damit jemand schmerzhaft in ihren Körper eindringen konnte!‟
Kalle gießt seine Tasse aus, stellt sie in die Spülmaschine und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum.