Frau Bedomeit muss ins Pflegeheim. Ihre günstige Dreizimmerwohnung in bester Lage muss sie aufgeben. Schwester Jenny hat eine Freundin, die dringend eine bezahlbare Unterkunft sucht. Ist es ein Verbrechen, diese Information auf dem kleinen Dienstweg weiterzugeben?
Eine Minute lang himmlische Ruhe. Kein Diensthandygebimmel, kein Patient, kein Angehöriger, kein Irgendwer, der etwas von mir will und bis zur Visite ist noch ein bisschen Zeit. Manchmal gibt es sowas, sogar mitten am Tag. Ich schlurfe zur Küche, um mir eine Tasse Krankenhauskaffeeplörre zu holen. Da sitzt Jenny, ohne Kaffeeplörre, dafür mit Telefon.
„Ruf am besten heute noch an, bevor es ein anderer macht!“
„Bahnhofsstraße drei,“ sagt sie, „erster Stock, aber du musst schnell sein!“ Nein, ich belausche normalerweise nicht fremde Leute beim Telefonieren. Aber erstens ist Schwester Jenny nicht fremd und zweitens spricht sie so laut, dass man es nun wirklich nicht überhören kann und drittens habe ich gerade keine Hände frei, um mir die Ohren zuzuhalten.
„Ruf am besten heute noch an, bevor es ein anderer macht!“ – Moment mal?
„… aber sag nicht, dass du es von mir hast. Ich weiß von nichts!“
Was macht die Krankenakte da auf dem Tisch? Die gehört zu Frau Bedomeit. Frau Bedomeits Akte habe ich schon seit Stunden gesucht, die brauche ich nämlich, weil ich den Entlassbrief fertig machen muss.
„Du gestattest?“
Jenny nickt. Sie hat das Gespräch beendet und steckt das Handy wieder weg. Ich nehme die Akte an mich und stutze, als ich den Aufkleber mit den Personalien entdecke: Bedomeit, Paula, Bahnhofstraße drei.
„Sag mal, willst du da einbrechen gehen?“
Jenny schüttelt den Kopf. „Die Wohnung wird doch frei!“
Ein Platz im Heim macht Platz für Julia
Frau Bedomeit ist fast schon neunzig und ziemlich dement. Übermorgen wird sie entlassen. Bislang hat sie es noch geschafft, sich alleine zu versorgen. Oder was man halt so dafür hält. Immer wieder ist sie bei uns gelandet, weil es wohl doch nicht geklappt hat. Die einzige Tochter ist inzwischen auch schon über siebzig. Jetzt haben wir sie davon überzeugen können, zusammen mit unserem Sozialdienst einen Platz in einem Heim zu organisieren. Tochter und Enkel wollen dann demnächst die alte Wohnung auflösen.
„Es ist wegen Julia…“, druckst Jenny herum.
„Wer ist Julia?“
„Meine beste Freundin. Und die sucht dringend eine Wohnung!“
„Und?“
„In der Bahnhofstraße drei wird ja demnächst eine frei!“
„Hör mal, du kannst doch nicht–“
„Warum nicht? Julia soll am besten heute noch bei Frau Bedomeits Tochter anrufen und nach der Nummer vom Vermieter fragen. Wenn sie sich dort sofort meldet, bevor der die Wohnung an einen Makler gibt, haben doch alle gewonnen!“
„Wieso?“
Win-Win vs. Schweigepflicht
„Julia hat dann vielleicht schon vom nächsten Ersten an eine Wohnung. Familie Bedomeit braucht sich nicht um die Kündigungsfristen zu kümmern und muss nicht noch drei Monate lang Miete zahlen. Sie brauchen noch nicht einmal zu renovieren, das würde Julia schon selbst machen, zusammen mit ihrem Freund. Der Vermieter hat keinen Leerstand und braucht sich nicht um den Makler zu kümmern. Nur der Makler schaut in die Röhre!“
„Aber … gibt's da nicht so etwas wie eine Schweigepflicht?“
Jenny lacht.
„Ich hab doch gar nichts gesagt. Die Julia hätte es doch auch von den Nachbarn erfahren können. Hat sie ja auch vielleicht. Wer weiß …“
Ich zapfe mir endlich einen Becher Kaffeeplörre und gebe reichlich Zucker und Milch hinein.
„Hör mal Jenny, machen wir uns nichts vor: Deine Julia profitiert von Informationen, an die sie nicht gelangt wäre, wenn nicht du in deiner Eigenschaft als Krankenschwester–“
Jenny unterbricht mich.
„Weißt du, wie wenig wir hier verdienen? Nein? Dann halt doch einfach das Maul! Irgendeinen Vorteil müssen wir doch haben, dafür, dass wir hier dementen Omis den Hintern abwischen. Wenn wir es uns schon nicht leisten können, einen Makler zu bezahlen!“
Damit verlässt sie den Raum, bevor ich irgendwas erwidern kann.