Bevor ich jemanden hineinrufe, sehe ich immer erstmal in meine Kartei. Ich kann nicht jeden kennen und sich vorher den Verlauf ins Gedächtnis zu rufen, ist immer eine gute Idee.
Die nächste Patientin war noch nie in der Praxis. Eingescannt war aber schon ein Notfallbericht aus dem nächstgelegenen Krankenhaus.
Was sie wohl hat? Unfall, Abszeß, irgendwas schlimmes?
Ich öffne den Befund und sehe die sehr sparsam ausgefüllten Felder. Unter Diagnose steht: Paukenerguß. Ich zucke zusammen. Deshalb in der Notaufnahme? Und jetzt zu mir?
Blick auf das Datum des Berichts: vor 5 Wochen an einem Mittwoch. Naja, dann wird sie doch wegen einer anderen Sache kommen.
Die Patientin nimmt auf dem Behandlungsstuhl Platz und ich frage wie üblich, was ich für sie tun könne. Den Krankenhausreport hätte ich doch bestimmt schon gelesen. Ja, habe ich. Das sei doch bestimmt schon ausgeheilt, oder?
Ja, natürlich sei das ausgeheilt! Sei ja auch ein kompetentes Krankenhaus. Auf Nachfragen habe sie schon seit Wochen keine Schmerzen mehr im Ohr, höre wieder wie vorher und Fieber hätte sie nie gehabt. Keine Beschwerden.
Was ich dann jetzt nach offensichtlicher Genesung für sie tun könne? Natürlich reinschauen und sich vergewissern, dass auch wirklich alles gut sei.
Hochmotiviert sehe ich durch mein Ohrmikroskop zwei Gehörgänge mit Trommelfell, die so gesund erscheinen, dass man sie für den Atlas fotographieren könnte. Nicht überrascht teile ich der Patientin das Ergebnis mit und frage noch, ob sie das nicht erwartet hätte und was sie jetzt noch von mir erwarte.
Keine Ahnung, meint sie, ich sei doch der Arzt.
Wieder was gelernt fürs Leben.
Als die Patientin den Raum verläßt, höre ich meine Perle vorne gerade den Satz am Telefon sagen: "Nein, tut mit Leid, aber heute haben wir auch keine Notfalltermine mehr!