Als ich in der neuen Praxis anfing, hatte ich mir angesichts der verblüffend selbstständigen Krankenpfleger die Frage gestellt, was wohl die Ärzte den Tag über treiben... Langeweile gehört jedenfalls nicht dazu
Nach den ersten Tagen, in denen der größte Teil meiner Aufmerksamkeit der rein sprachlichen Verständigung, der Entschlüsselung des Verschreibungssystems und dem Kampf mit dem Computer gewidmet war, bekam ich Gelegenheit, mir meine Patienten genauer anzuschauen.
Die chronischen Krankheiten, das täglich Brot der Allgemeinmedizin, kennt man von zu Hause: Diabetes, Bluthochdruck, COPD und Arthrose in allen Formen und Farben für die Älteren, Asthma und Übergewicht für die Jungen. Allerdings kommen hier zu dem Asthma bei vielen, vor allem bei kleinen Kindern, Hautausschläge hinzu, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Allergische Ekzeme sind so häufig, dass es eine eigene Ekzema-Klinik gibt, und man ist alles andere als zimperlich mit der Kortison-Creme. Ich habe die Kollegen nach ihrer Meinung zu den Gründen des hohen Allergie-Aufkommens befragt, und die Theorien gehen von Milben und Sporen in den schlecht isolierten Häuser bis zu hohem Aufkommen von besonders allergenen Pollen (von Pflanzen, von denen ich noch nie etwas gehört habe). Persönlich habe ich aber auch den Verdacht, dass es etwas mit der Landwirtschaft zu tun haben könnte, und beobachte misstrauisch die Sprühfahrzeuge.
Überhaupt wird die Dermatologie hier auf einmal richtig nützlich und anwendbar und ich finde Dinge, die ich hauptsächlich aus der Theorie kannte: Impetigo, zu Hause eher die Ausnahme und als fast schon sicheres Zeichen von Verwahrlosung angesehen... heißt hier "school sores" und wird in den Grundschulen fröhlich herumgereicht. Ebenso munter unterwegs sind die Läuse, aber solche Mini-Epidemien waren auch in meinem Kindergarten nicht ungewöhnlich. Nachdem ich dann aber den dritten Fall von Krätze diagnostiziert hatte, diesmal bei der Erzieherin des Kindergartens, verlangte es mich nach einer Dusche. Mit Sterilium.
Aber nicht nur Dermatologie wird aufgefrischt, auch Pädiatrie ist plötzlich Regel und nicht Ausnahme. In meiner Praxis in Belgien sah ich Kinder meistens nur während der Dienste, wenn außerhalb der Notaufnahme kein Kinderarzt zu erreichen war. Hier ist fast jeder zweite Patient unter 13, und die Gründe dafür sind ebenso einfach wie einleuchtend: Arztbesuche für unter 13-Jährige sind kostenlos und der nächste Kinderarzt befindet sich im eine Stunde entfernten Palmerston North.
Überhaupt sind Spezialisten sehr dünn gesäht und ich finde mich mit einem für mich ganz neuen Problem konfrontiert: normalerweise daran gewöhnt, meinen Patienten mühsam genug Vertrauen in die Allgemeinmedizin abzuringen, um nicht wegen jedem neuen Symptom direkt zum (ihrer Meinung nach) zuständigen Spezialisten zu gehen (in Belgien ist keine Überweisung nötig), finde ich mich hier in der Position wieder, sorgfältig formulierte Bettelbriefe an den betreffenden Spezialisten zu schicken, damit er sich bitte, bitte! besagten Patienten einmal anschaut. Und in manchen Fällen trotz sorgfältiger Auflistung aller Symptome, der Vorgeschichte und mit allen bereits veranlassten Voruntersuchungen eine Absage zu bekommen, mit dem Hinweis, dass die Anfrage derzeit keine Priorität habe, oder, wenn ich Glück habe, einer Liste mit weiteren (natürlich auch von mir) zu veranlassenden Voruntersuchungen. Das öffentliche System ist hoffnungslos überlastet und Wartezeiten für "nicht prioritäre" Fälle von sechs Monaten oder länger sind völlig normal. Wer privat zahlt, kann natürlich in den nächsten Wochen mit einem Termin rechnen...
Die angenehme Seite des Mangels an Spezialisten, aus professioneller Sicht, ist, dass die Arbeit der Allgemeinmediziner wesentlich abwechslungsreicher und damit, für mich persönlich, interessanter wird. Vor allem der praktische Teil macht mir Spaß: kleine chirurgische Eingriffe wie Punch-Biopsien, Muttermale entfernen, aber auch das öffnen von Abszessen (mein persönliches Highlight: Brust-Abszess von der Größe einer Mandarine) und primäre Wundversorgung bei Unfällen von der Platzwunde beim Skateboardfahren bis zum spektakulären Desaster mit der Kettensäge. Auch Hormonimplantate und IUDs werden vom Hausarzt eingesetzt und entfernt, und bei unkomplizierten Brüchen wird der Gips direkt in der Praxis angelegt.
In Belgien werden viele der zeitaufwändigeren Prozeduren und Eingriffe gerne zum Spezialisten abgeschoben, weil sie sich für Allgemeinmediziner weder zeitlich noch finanziell rechnen. Dementsprechend fehlt mir die Übung, teils, weil ich es nie gelernt habe, teils weil ich es gelernt, aber dann nie wieder angewendet habe.
Als ich das meinen Kollegen gestehe, wird sofort allgemein bekannt gegeben, dass ich zu jeder auch nur ansatzweise interessanten Prozedur dazugerufen werden soll... ich bin also weiter chronisch verspätet.