Ärzte entdecken viele Wechselwirkungen nur durch Zufall. Jetzt zeigen US-Forscher, wie sich unerwünschte Effekte mithilfe von Big Data aufspüren lassen. Doch es lohnt sich auch, Apotheker als zusätzliche Datenquellen anzuzapfen. Sie sehen zuerst, wenn Patienten OTCs kaufen.
Pharmakotherapien sollen sicherer werden. Deshalb haben gesetzlich versicherte Patienten, die mindestens drei Rx-Präparate zur Dauertherapie erhalten, seit Oktober Anspruch auf gedruckte Medikationspläne. Ab 2018 soll die elektronische Gesundheitskarte zum Einsatz kommen. Aus Sicht von Apothekern ist und bleibt das Medikationsmanagement Goldstandard. Dazu gehört neben der Medikationsanalyse eine kontinuierliche Betreuung durch Ärzte. Nur wie vollständig sind die Informationen zu Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen? Medikationsplan mit Testdaten. Screenshot: DocCheck
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) melden Ärzte ihrer jeweiligen Arzneimittelkommission. Je seltener der Effekt, desto geringer ist auch die Chance, dass Kollegen hellhörig werden. Tal Lorberbaum und Nicholas P. Tatonetti von der Columbia University New York zeigen jetzt, wie es gelingt, in „Big Data“ nach seltenen Wechselwirkungen zu fahnden. Basis ihrer Arbeit waren 1,8 Millionen Datensätze aus dem Adverse Event Reporting System der US Food and Drug Administration (FDA). Rund 1,6 Millionen Elektrokardiogramme von 382.221 Patienten kamen mit hinzu. Als messbare Größe wählten sie Verlängerungen der QT-Zeit. Bekannt ist, dass manche Antiarrhythmika, Antibiotika oder Psychopharmaka zu längeren QT-Intervallen und in seltenen Fällen zu Torsade-de-Pointes-Tachykardien führen. Lorberbaum und Tatonetti suchten beim Data Mining in digitalen Aufzeichnungen nach weiteren Zusammenhängen. Dabei entdeckten sie, dass der Protonenpumpenhemmer Lansoprazol zusammen mit dem Cephalosporin Ceftriaxon QT-Intervalle verlängerte. Rund 40 Prozent aller Patienten, die beide Arzneistoffe erhielten, hatten Werte über 500 Millisekunden. Das Entspricht der Obergrenze laut FDA-Angaben. Anschließend verifizierten beide Forscher ihren Befund mit elektrophysiologischen Experimenten. Lansoprazol plus Ceftriaxon hemmen in Kombination einen Ionenkanal. Andere Cephalosporine zeigten keinen Effekt. Generell lässt sich die Methodik auf beliebige Wechselwirkungen ausdehnen, falls es Daten gibt.
Dr. Sven Jungmann. Foto: privat DocCheck bat Dr. Sven Jungmann um eine Bewertung. Er ist Direktor der Healthcare Initiative der Exponential University Berlin und arbeitet als Arzt im Helios Klinikum Emil von Behring. „Diese Studie ist ein wichtiger Schritt und zeigt, was uns in naher Zukunft Spannendes erwartet“, so Jungmann. „In der Tat können solche Projekte die medizinische Forschung revolutionieren.“ Traditionelle randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) würden deshalb nicht aussterben. Sie können aber um potenziell wesentlich kostengünstigere Observationsstudien oder pragmatische RCTs ergänzt werden. „RCTs haben oft derart rigorose Ein- und Ausschlusskriterien, dass sie in vielen Fällen nicht direkt auf den Patienten anwendbar sind, der vor einem sitzt“, erklärt der Experte. „Das ist anders, wenn ich große Datensätze zur Verfügung habe, mit der ich individuell passende Referenz-Fälle zum Vergleich heranziehen kann, auch für seltene Medikationskombinationen.“ Jungmann spekuliert sogar über Meldungen in Echtzeit. Vielleicht gibt es bald Systeme, bei denen ein intelligenter Algorithmus Heilberufler automatisch auf neu erkannte Interaktionen hinweist. „Ultimativ könnten daraus sogar Programme entstehen, die Ärzten automatisierte Medikationsempfehlungen geben und dabei bestehende Medikationen und individuellen Charakteristika berücksichtigen. Das wäre ein großer Schritt für die personalisierte Medizin“, ergänzt der Forscher.
Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Jungmann fordert, Ausgangs-Datensätze zu verbessern und auch neue Methodenkompetenz zu entwickeln. Technische Probleme kommen mit hinzu. „In Deutschland sind leider zu viele Informationen noch in Papierform gespeichert und nicht zugänglich.“ Falsche oder ungenaue Kodierungen kommen mit hinzu. Und nicht zuletzt liegt die elektronische Gesundheitskarte weit hinter allen Erwartungen zurück. Bis wann es beispielsweise E-Rezepte geben wird, weiß niemand so genau. Um gute Ergebnisse zu generieren, lohnt es sich, zusätzliche Datenquellen anzuzapfen. Kaufen Patienten OTCs oder Nahrungsergänzungsmittel, sehen das vor allem Pharmazeuten über Kundenkarten. Viele Wechselwirkungen werden nur per Zufall entdeck. Das geht auch systematischer.
Um den größtmöglichen Nutzen aus Medikationsdaten zu gründen, haben Apotheker, Ärzte und Krankenkassen ARMIN gegründet: die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen. Ihr Vorhaben basiert auf drei Modulen:
Nach dem Start am 1. April 2014 konnten die Module Wirkstoffverordnung und Medikationskatalog zum 1. Juli 2014 umgesetzt werden. Zum 1. Juli 2016 haben Entwickler auch das Medikationsmanagement erfolgreich integriert. Beim letzten Apothekertag zogen Ärzte und Apotheker ein positives Fazit – ARMIN bringe allen Beteiligten nur Vorteile. Die Vertragslaufzeit ist bis 2018 angesetzt. Bei guter Evaluation halten die Vertragspartner eine Überführung der Inhalte in die Regelversorgung für denkbar. Momentan handelt es sich um ein Modellvorhaben auf Grundlage des V. Sozialgesetzbuchs, Paragraph 64a.