Ein Ausbruch von Noro-Viren ist kein Spaß. Der aggressive Magen-Darm-Keim verbreitet sich rasend schnell und hält sich an kein Gesetz. Das ist nicht fair. Weder für die Patienten noch für uns.
Es stinkt. Es stinkt bestialisch über den ganzen Flur. Schwester Paula kommt aus einem Patientenzimmer, verkleidet mit Handschuhen, Mundschutz und grünem Einwegkittel, in der Hand vor sich trägt sie eine Bettpfanne.
Kalle wirft ihr einen fragenden Blick zu. „Wer?“
„Herr Chromsky!“, sagt Schwester Paula. Kalle zieht einen zerknitterten Zettel aus seiner Kitteltasche. „Das wäre dann Nummer dreizehn!“
Die dreizehnte Patientin mit Durchfall oder Erbrechen oder Erbrechen mit Durchfall oder Durchfall mit Erbrechen. Schuld ist das Norovirus. Das schlägt ganz plötzlich zu und verbreitet sich rasend schnell, nicht nur in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, sondern ab und zu auch in Luxushotels oder auf Kreuzfahrtschiffen. So eine kleine Epidemie trifft uns regelmäßig immer wieder, meist in der kühlen Jahreszeit, im Durchschnitt so ein bis zweimal im Jahr.
Hygienemaßnahmen sind jetzt das A und O
Und wenn wir die Biester an Bord haben, dann ist Schadensbegrenzung das oberste Gebot: strengste Hygienemaßnahmen sind Pflicht für alle Mitarbeiter und die betroffenen Patienten dürfen ihre Zimmer nicht verlassen. Wenn wir Glück haben, ist der Zauber nach ein bis zwei Wochen wieder vorbei. Wenn wir Pech haben, dauert es ewig. Was vor allem dann passiert, wenn sich die Patienten nicht an die Isolierungsmaßnahmen halten und munter weiter über die Flure geistern. Oder wenn der eine oder andere Mitarbeiter nicht viel von Hygiene versteht und von Zimmer zu Zimmer geht, ohne sich zwischendurch die Hände zu desinfizieren. Oder ... oder ... oder ... manchmal ist es einfach so.
Mein Diensthandy düdelt. Pfleger Marvin ist dran aus der Notaufnahme. „Chef?‟
Bin ich nicht. Aber Marvin redet mich öfter so an und wenn er das tut, dann hat er schlechte Nachrichten. „Was gibt’s?‟
„Ich hab noch einen für Euch!‟ Einen Zugang? Das ist noch nicht unbedingt eine schlechte Nachricht. „Und?“, frage ich. „Der kackt!‟
Platzmangel und Aufnahmestopp
Also Nummer vierzehn. Für seine drastische Ausdrucksweise hätte Marvin vor ein paar Monaten übrigens fast mal eine Abmahnung kassiert, als sich zufällig ein Mitglied der Geschäftsführung in die Notaufnahme verirrt hatte, aber die Sache ist im Sande verlaufen und Marvin schimpft seither nur noch heftiger auf die Tintenpisser aus der Verwaltung.
Aber jetzt muss ich mich um den neuen Patienten kümmern. Eigentlich haben wir während eines Noro-Ausbruchs einen Aufnahmestopp, aber das ist meist reine Theorie. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass die meisten Noro-Patienten schwer krank sind. Durch Durchfall und Erbrechen haben sie Flüssigkeit verloren und wenn es sich um ältere oder chronisch kranke und fragile Menschen handelt, dann lässt sich die Situation zu Hause oder im Heim nicht adäquat kontrollieren. Im Prinzip sind die Leute also bei uns richtig. Aber wohin mit ihnen?
Schwester Paula stöhnt. „Ich habe kein Zimmer mehr frei!“ – „Könnte man nicht umschieben?“, fragt Sarah.
„Aber meine Mutter möchte in ein neues Zimmer“
Nein, das wäre fast ein Kunstfehler! Unsere allerwichtigste Aufgabe ist, die weitere Ausbreitung des Erregers zu verhindern und deshalb werden grundsätzlich keine Betten verschoben, schon gar nicht von einem Zimmer mit betroffenen Patienten in ein Zimmer, dessen Bewohner bislang noch verschont geblieben sind. Und genau das ist der Grund, warum Kalle sich gerade mit der Tochter von Frau Hanselmann streiten muss.
„Meine Mutter will in ein anderes Zimmer!“, sagt Frau Hanselmann junior.
„Das weiß ich.“
„Und?“
„Sie bleibt, wo sie ist.“
„Aber ihre Nachbarin hat Durchfall!“
„Das ist richtig.“
„Sie könnte meine Mutter anstecken!“
„Auch das ist richtig.“
„Und was dann?“
„Das wäre schade.“
„Warum machen Sie dann nichts?“
„Weil wir unsere anderen Patienten nicht gefährden dürfen. Auch wenn Ihre Mutter noch keinen Durchfall hat, könnte sie andere Patienten anstecken. Deswegen können und dürfen wir sie nicht in ein anderes Zimmer verlegen. Höchstens in ein freies Einzelzimmer. Aber wir haben leider keines.“
Noroviren sind unfair – für alle Beteiligten
„Dann setzen Sie meine Mutter also absichtlich dem Risiko aus? Das ist unfair!“
Ja, es ist unfair. Diese ganze Sache ist unfair. Unfair für Frau Hanselmann, unfair für Herrn Chromsky und die anderen betroffenen Patienten. Und unfair für uns. Zwei Pflegekräfte hat es schon erwischt.
Kalle hat seine Ruhe nicht verloren. Gemächlich schlendert er über den Flur. Er pfeift. Die Melodie erinnert ein wenig an „Wir lagen vor Madagaskar“.