Schwerkranke Menschen haben Schmerzen. Wer Schmerzen hat, bekommt Schmerzmittel. In beliebiger Menge? Oder ist irgendwann einmal Schluss?
Es piepst auf dem Flur. In Zimmer achtundzwanzig geht die Glocke. Oberhalb der Tür leuchtet ein rötliches Lämpchen, der Patient hat nach der Schwester geklingelt.
Zimmer achtundzwanzig ist ein Einzelzimmer. Ein bisschen abseits gelegen und doch gut erreichbar für die Pflegekräfte. Zu klein und zu unbequem, um es Privatpatienten anbieten zu können, aber groß genug, um eine Liege oder einen bequemen Sessel hineinzuschieben, wenn Angehörige über Nacht bleiben wollen.
Wer in Zimmer achtzundzwanzig wohnt, schaut nicht aus dem Fenster
Die Aussicht aus dem Fenster geht zwar nur auf den rückwärtigen Parkplatz, aber wer in Zimmer achtzundzwanzig wohnt, schaut nicht mehr aus dem Fenster. Zimmer achtundzwanzig ist das Sterbezimmer.
Natürlich heißt es nicht offiziell so. Wer lange genug bei uns gearbeitet hat, nimmt dieses Wort niemals in den Mund, nur die Neulinge raunen es sich hinter vorgehaltener Hand zu und so weiß es jeder, auch wenn man es nicht ausspricht.
Es gibt es auch Patienten, die das Zimmer achtzundwanzig gesund oder gesünder wieder verlassen haben. Aber ein großer Teil derjenigen, die auf unserer Station ihre letzten Tage erlebt haben, haben dies in Zimmer achtundzwanzig getan.
Wie viel Morphium ist okay?
Und der aktuelle Bewohner braucht jetzt Hilfe. Schwester Jenny macht sich auf den Weg. Ein paar Minuten später kommt sie wieder zurück.
„Herr Wulfsberger hat Schmerzen!‟
Herr Wulfsberger hat ein weit fortgeschrittenes Bronchialkarzinom mit Knochenmetastasen, die auch schon einige pathologische Frakturen verursacht haben.
„Spritz ihm noch eine Zehner Morphium!‟, sage ich.
Sarah schaut mich mit großen Augen an. „Spinnst du?‟
Warum?
„Er hat doch erst vor einer Stunde eine bekommen!‟
Na und?
„Was der in den letzten Tagen an Morphium bekommen hat, das haut einen Elefanten um!‟
Hat er Schmerzen oder will er nur nicht mehr?
Aber wenn er noch Schmerzen hat?
„Der hat doch keine Schmerzen!‟, sagt Sarah, „Der kann doch gar keine Schmerzen haben. Ist doch vermutlich alles bloß psychisch!‟
Woher weißt du das so genau?
„Ist doch klar. Der will einfach nicht mehr. Der hat sich aufgegeben. Und deshalb sagt er einfach, dass er Schmerzen hat!‟
Und wenn dem so wäre? Was sollen wir tun?
Sarah zieht die Schultern hoch.
„Wir könnten den Pfarrer zu ihm schicken.‟
Sorglos im Angesicht des Todes
Warum nicht? Zwar hat Herr Wulfsberger mit Kirche nichts am Hut – er ist schon vor vielen Jahren ausgetreten, wie er mir mal gesagt hat – aber unser Klinikseelsorger ist ein sehr sensibler, zurückhaltender und höflicher Mann, der von allen hochgeschätzt wird.
Trotzdem kriegt Herr Wulfsberger jetzt seine Morphium-Spritze.
Sarah schüttelt den Kopf.
„Ich versteh nicht, wie man so sorglos sein kann mit Opiaten. Das sind doch sau-gefährliche Drogen! Hast du an all die Nebenwirkungen gedacht?‟
Sie wendet sich ab.
Am nächsten Morgen ist Herr Wulfsberger tot.
„Die ganze Nacht über hat er geklingelt!‟, berichtet Schwester Anna. „Alle paar Minuten und ständig wollte er Schmerzmittel haben. Bis die Nachtwache ihm dann gesagt hat, dass jetzt Schluss ist!‟